"Ich kann mich nicht erinnern" - die DDR-Kinderkuren und ihre Folgen

Außer ein wenig Kontext möchte ich hier an dieser Stelle gar nicht viel sagen, denn ich denke, die Länge und der Inhalt des heutigen Beitrags sprechen für sich selbst. Am 12. April dieses Jahres sprachen Weronika und ich in Erfurt mit Ulrike Tabor vom Verband der DDR-Kurkinder (Ulrikes Website gibt es unter https://www.ulriketabor.de/, die Kurkinder findet Ihr unter der Instagram-Adresse https://www.instagram.com/ddrkurkinder/). Es ging um die Aufarbeitung der DDR-Kinderkuren, einem Verfahren, bei dem über Jahrzehnte hinweg Kinder auf wochenlange, angeblich gesundheitsfördernde Kuren geschickt wurden, unter deren Deckmantel oft schwere Fälle von Missbrauch auftraten. Bis heute existiert keine Aufarbeitung dieser Strukturen. Mich persönlich hat dieses Gespräch sehr berührt und ich möchte an dieser Stelle Ulrike ausdrücklich dafür danken, dass sie uns angesprochen hat und bereit war, ihre Erfahrungen mit uns zu teilen. Wir möchten diesen Blogeintrag nutzen, um Ulrike stellvertretend für alle Betroffenen eine Zuhörerschaft zu bieten.

 

Hanna

 

CN/Inhaltliche Angaben: Traumata und Traumata-Aufarbeitung, körperliche und sexualisierte Gewalt an Kindern

 

 

Ulrikes Biographie, ihre Erfahrungen und ihre Arbeit

 

Ulrike: Ich bin eigentlich Künstlerin und sehr aktiv in der Aufarbeitung der DDR-Kinderkuren, auch im Betroffenenrat. In den letzten Jahren habe ich viel Aktivismus gemacht, nun manage ich das Social Media der DDR-Kurkinder. Ich suche schon sehr lange nach Antworten in meiner Biografie, weil mein Leben mit krassen Problemen belegt war. An die Kinderkur habe ich keine konkreten Erinnerungen, nur Symptome, die sich zeigen. Es hat sich im Laufe der Aufarbeitung meiner Biografie rausgestellt, dass ich mich bei der Kinderkur finde, da finde ich Antworten, da erklärt sich mein Leben.

Im Jahr 2017, oder auf jeden Fall 2018, habe ich im Internet zu den Kinderkuren gesucht und nach Begriffen wie Ferienlager in der DDR recherchiert. Damals gab es noch nicht so viele Einträge, sodass ich zu meinem Kindersanatorium nicht viel fand. Da dachte ich mir, vielleicht gründest du einfach eine Facebook-Gruppe. Das Lustige war, dass ein paar Tage später bereits eine andere Person die Facebook-Gruppe eröffnet hat. In dieser Gruppe haben wir schon viele Informationen gesammelt. Aber ich habe immer gedacht, dass da kein Kurkind von dem Schweren schreibt, was mich bewegt, wo steht das denn mal drin? Dann habe ich gedacht, dass ich jetzt mal nach Lychen fahren muss. Das war leider zu spät, weil das Sanatorium gerade zu der Zeit umgebaut wurde.

Kurz vor der Wende 1989 war ich zur Kinderkur in Lychen in Brandenburg - in der Stadt der sieben Seen, eigentlich sehr schön. Im Sommer 2022 bin ich nach Lychen gefahren, um meine Erinnerungen zu finden. Da habe ich gezeltet, den ganzen Ort nach dem Kindersanatorium angefragt. Niemand wusste etwas, es gab öfter mal ehemalige Kurkinder, die sich zum Sanatorium erkundigten, ansonsten hieß es, es war alles schön. Das ehemalige Kindersanatorium, das ist einfach nur ein Haus, eine kleine Villa am Rande des Ortes. Da bin ich hingelaufen und als ich dann da war: Bauarbeiten. Ich dachte mir, na super, jetzt kann ich in dieses Haus nicht mehr rein, die Treppe war weg, ich war enttäuscht, weil ich die Erinnerung brauchte. Am nächsten Tag bin ich noch mal zum Sanatorium hingelaufen, durch die Bauarbeiter durfte ich zufällig ins Haus hinein sogar fotografieren und filmen. Das Haus wurde zu einer Kindertagesstätte umgebaut. Bei mir waren keine Erinnerungen, nicht im Haus, nicht vor dem Haus, gar nichts. Ich habe mich dann weiter im Ort durchgefragt. Dann war ich im Rathaus, keine Person wusste etwas zum Kindersanatorium, aber auf einmal kam ein Mann die Treppe runter, der meinte, dass er mehr wüsste. Er nahm sich Zeit, hat mich mit in einen separaten Raum genommen und wir haben uns unterhalten.

Ein Mann und ich in einem Raum, das war auch sehr schwierig für mich. Aber im Gespräch bin ich zum ersten Mal mit dem Thema Opfer von sexualisierter Gewalt in der DDR in Kontakt gekommen. Der Mann meinte, ich solle eine Anzeige machen, die Staatsanwaltschaft kann in diesen Fällen besser untersuchen. Ich dachte, was ist das jetzt hier? Die ganze Zeit heißt es, es gibt nichts zu berichten und dann bekommt man solche Informationen. Aus diesem Grund habe ich dann angefangen, mich mit Opfern von sexualisierter Gewalt in der DDR zu beschäftigen.

Jemand aus unserer Lychener Gruppe hat sich dann bei mir gemeldet und ist in den Austausch mit mir gegangen. Danach ist ganz, ganz viel mit meiner Psyche passiert. Mir ging es richtig schlecht. Es sind Sachen wie ein Albtraum hochgekommen, Dissoziationen, all das. Anja Röhl von der Initiative Verschickungskinder, die die Erlebnisse für Westdeutschland aufarbeiten, kam danach noch zu einer Lesung nach Erfurt, da bin ich hingegangen – da waren nur vier, fünf Leute. Bei der Lesung ging es mir wieder sehr schlecht. Ich bin mit Anja Röhl danach noch etwas essen gegangen, da hat sie mir von der Aufarbeitung der DDR-Kinderkuren erzählt. So habe ich mich bei der Initiative der Verschickungskinder eingeklinkt. Im Online-Meeting der DDR-Kurkinder habe ich später erklärt, dass wir auf Social Media aktiv werden sollten. Und so versuchen wir mittlerweile dieses Schweigen zu brechen, um uns zu finden - um Antworten zu finden.

Das ist die Vorgeschichte, wie ich zur Initiative der Verschickungskinder gekommen bin. Nur ich selbst bin nicht sehr repräsentativ, denn ich habe so gut wie gar keine Erinnerungen an die Kur. Wie gesagt, ich stand sogar in dem Haus, da war gar nichts. Ich habe kleine Fetzen, aber das nennt man bestimmt nicht Erinnerungen, das nennt man Fotobilder oder so etwas. Aber im Laufe der Aufarbeitung habe ich krasse Symptome erlebt, wo ich merke, da ist mehr. Ich weiß auch viel durch andere Betroffene, habe mit einigen Menschen telefoniert. Und so versuche ich hier eine Stimme für diese 2,6 Millionen DDR-Kurkinder zu sein.

 

Weronika: Wie alt warst du?

 

Ulrike: Ich bin 1981 geboren und zur Zeit der Kur war ich sieben. Es hat eine Schuluntersuchung gegeben, hat meine Mutter erzählt, da wurde bei mir Skoliose festgestellt. Irgendwie hat es sich innerhalb von einem Jahr herausgestellt, dass ich zur Kur fahren muss. Das war mit einer Drohung an meine Eltern verbunden, dass ich das orthopädische Schwimmen erst nach der Kur bekommen wurde. Ich sollte zuerst drei Wochen zur Kur fahren, dann wurden es kurzfristig sechs. Meine Eltern wollten mich nicht wegschicken, meine Mutter hat sich noch bei einer Erzieherin informiert, die nichts Negatives erzählte, andere Eltern haben ihre Kinder auch verschickt. Dann haben sie mich losgesendet. Nach der Kur war gleich die Wende – aber die DDR-Kurkinder sind laut Berichten bis ´93 verschickt worden, die Heime gab es wohl noch bis ´96.

 

Hanna: Das weiß mit Sicherheit auch niemand, wenn man heute darüber redet, dass das danach noch so lange weiterging.

 

Ulrike: Wenn wir sagen, der Untersuchungszeitraum ist 40 Jahre, von der Gründung der DDR bis ´89, dann schließen wir Leute aus, die nach der Wende zur Kur waren. Da ist manchmal so eine Diskrepanz; die Initiative der westdeutschen Verschickungskinder ist sehr präsent in der Öffentlichkeit. Die DDR-Kurkinder haben sich nicht so gesehen gefühlt. Die Initiative zur Aufarbeitung der DDR-Kinderkuren ist unter dem Dach der „Initiative Verschickungskinder e. V.“ engagiert, wir nutzen ihre Plattformen, denn sie sind einfach viel weiter. Woran liegt diese ungleiche Aumerksamkeit?

 

Hanna: Ich glaube, da ist einfach wirklich lange nichts passiert.

 

Weronika: Wir haben mal darüber geschrieben: wenn du dir Social Media ansiehst, irgendeinen Post über „Das und das kann man seit dann und dann in Deutschland machen“. Da ist mit Deutschland die BRD gemeint. Die DDR ist maximal unten im Klappentext noch angegeben. Funk macht das richtig oft.

 

Hanna: Auch dadurch, dass der Medienraum so westdeutsch dominiert ist, fehlen da totale Aufmerksamkeit und Ressourcen. Und das merkt man in der bundesdeutschen Öffentlichkeit, dass da eine Lücke ist.

 

Ulrike: Das ist manchmal echt frustrierend. Wir arbeiten super mit der Initiative der Verschickungskinder zusammen, sie unterstützen uns auch. Nur denkt man, oh, die haben so viel erreicht. Es haben sich schon früh mehr Leute für sie interessiert, obwohl man doch selbst schon so lange sucht.

 

Hanna: Was ist das Durchschnittsalter der Leute, die bei euch dabei sind?

 

Ulrike: Unterschiedlich. Zu 1956 gibt es jemanden, der einen Eintrag gemacht hat, bis 1993. Das liegt bestimmt auch an den sozialen Medien, dass manche Ältere weniger berichten, weil sie diese nicht nutzen. Aber es gibt auch Kurkinder der älteren Generation, die nach Antworten suchen. Was ich noch total wichtig finde zu sagen ist: Die Wurzeln der Erziehungsmethoden in den Kinderkuren sind durch den Nationalsozialismus und die schwarze Pädagogik geprägt, deren Einfluss erforscht werden muss. Bei uns in der DDR gab es noch das System der Staatssicherheit, die spielt in vielen Biografien auch eine Rolle. Ich weiß, dass das auch in unseren Kinderkurheim ein Thema war, inoffizielle Mitarbeiter. Es ist eine riesige Dimension, von der wir sprechen. Sie hat mehrere Ebenen, emotionale, politische bis juristische. Manche Kinder wurden dreimal verschickt, manche waren im Ausland. Die Auslandskinderkuren sind in Berichten positiver geprägt. Wir kriegen manchmal auch wütende E-Mails, dass wir die Kuren immer nur schlecht reden.

 

Weronika: Jedes Kind ist auch anders und verarbeitet Dinge anders. Und jede Familie ist anders.

 

Ulrike: Man kann vielleicht sagen, da sind schöne Momente dabei, die man rauspicken kann. Wir wissen aber nicht, welche Gewalt passiert ist, die in der Erinnerung verdrängt wurde. Schläge auf jeden Fall, wir wissen auch von sexualisierter Gewalt in mehreren Kinderkurheimen. Institutionelle Gewalt ist geschehen, es gab keine Schutzkonzepte für die Kinder. Die Häuser waren abgelegen, teilweise am Waldrand. Man konnte mit den Kindern machen, was man wollte. Pädophilie hatte auch einen Raum, ausgelebt zu werden. Es gibt Kurkinder, die sexualisierte Gewalt an anderen Kindern erlebt und gesehen haben. Mobbing unter den Kindern gab es ebenfalls.

Warum wurde man zur Kur geschickt? Wirbelsäulendeformierung, leichte und schwere Skoliosen, schwere Gehbehinderung, Scheuermannsche Erkrankung, Rundrücken, Kyphosen, Asthma, Neurodermitis. Asthma war viel der Behandlungsgrund in Thüringen aufgrund der Gradierwerke. Manche wurden auch einfach wegen Gewichtszunahme verschickt - wegen Gewichtsabnahme glaube ich nicht. Für manche Kinder aus Industriegebieten war die Kur auch gut wegen der Luft. Aber sie waren oft sehr, sehr jung, vier Jahre.

Wir sind mit dem Bus losgefahren, ich war sehr traurig, das weiß ich noch, habe es aber unterdrückt und mir nicht anmerken lassen. Süßigkeiten wurden laut den Berichten weggenommen, Westklamotten wurden natürlich weggenommen oder kontrolliert. Geld wurde angeblich auch einkassiert. Es gab in den Kinderkurheimen ein Isolierzimmer, es gibt auch Geschichten, wo Leute den ganzen Kuraufenthalt im Krankenzimmer isoliert wurden. Den Eltern wurde verboten zu schreiben. Kinder können gar nicht verstehen, was da gerade passiert. Du fährst weg und du kannst sechs Wochen lang nicht mit deinen Eltern kommunizieren. Wir durften nur zwei Briefe schreiben, einmal in der Woche. Ich hatte 15 Adressen von meiner Mutter bekommen, ich konnte nicht allen in der Familie schreiben, das ging rechnerisch nicht. Meine Mutter meinte nach der Kur, warum hast du nicht jedem geschrieben? Das habe ich als Kind dann total als Vorwurf aufgefasst, nun konnten wir es klären. Ich habe mich auch immer gewundert, warum ich so merkwürdige Briefe schreibe - „Mir gefällt es hier sehr gut.“, auch gleich einen Tag nach der Ankunft - „Liebe Oma, lieber Opa, ich bin gut in Lychen angekommen. Heute werden unsere Koffer ausgepackt. Ab Montag beginnen dann die Behandlungen. Das Wetter ist sehr schön. Wir werden viel an der frischen Luft sein. Schreibt mir bitte, so oft ihr Zeit habt. Es grüßt Euch Eure Ulrike“. Das würde keine Siebenjährige so schreiben.

 

Hanna: Es klingt ein bisschen wie ein Schulbuchtext.

 

Ulrike: Ich habe mich immer gewundert, warum schreibe ich so komisch? Und da kann man sagen, es gab im Rahmen der Kinderkuren eine Briefzensur. Das haben auch andere DDR-Kurkinder gesagt, dass die Briefe an die Eltern diktiert wurden. Ich glaube, es wurden auch Briefe und Pakete abgefangen. Von unserer Gruppe weiß ich aus Rückfragen, dass Briefe angeblich auch im Kreis vor allen anderen vorgelesen wurden. Man durfte auf jeden Fall nicht schreiben, dass es einem schlecht geht oder es schlimm in der Kur ist. Was im Tagesablauf auch sehr wichtig war, war das Trockenbürsten. Sieben Uhr morgens fing das in Lychen laut meinem Kurtagebuch an, dann stehst du da im Kreis mit den anderen Kindern, Oberkörper nackt und musst deinen Körper nach einer Reihenfolge entlang bürsten. Wassertreten gab es, kaltes Abduschen, das erzählen viele. Da habe ich mich auch gefragt, ob der Grund in der Kur liegt, warum ich das vielleicht nicht mag. In der Aufarbeitung passiert es immer mal, dass ich erkenne, ach, deswegen hast du so eine Angst. Man will nicht zu einer Kur, man schläfst nicht gerne mit anderen Menschen in einem Raum. Ansonsten gab es Wassertreten, Liegekur, Phototherapie, Höhensonne - da waren Kinder auch nackt und sollten bestrahlt werden. Von Essenszwang haben viele erzählt, daraus ergibt sich Ekel vor bestimmten Speisen.

 

Hanna: Das wird ja selbst in heutigen Kindergärten teilweise noch praktiziert. Ich habe das damals bei uns im Kindergarten auch noch erlebt, wenn ich mich so zurückerinnere, dieser Druck, du sollst jetzt hier aufessen. Das sorgt für eine total verschobene Wahrnehmung von Essen.

 

Ulrike: Was ihr eigentlich in fast jedem Bericht von Betroffenen seht, ist, dass sie an vielen Stellen keine Erinnerung an die Kur haben. Manches an Erinnerung kam dann bei betroffenen DDR-Kurkindern, die schwerste Gewalt in der Kur erlebt haben, durch Therapiesitzungen hoch. Wir sprechen da aber wahrscheinlich auch von Medikamentenvergabe. Das muss untersucht werden. Einige DDR-Kurkinder können sich an Tropfen oder Tablettenvergabe erinnern. Man hat ja Medikamententests gemacht in der DDR, das ist ja öffentlich bekannt - wie weit das wohl an Kindern auch probiert worden ist? Wir wissen nicht, was für Tabletten das waren, was sie bewirkt haben.

Meine Oma hat mir gesagt, du musst doch Heimweh gehabt haben, aber bei mir war da nichts. Jetzt in der Aufarbeitung mit den Kinderkuren, merke ich, okay, da ist doch was, da kam was hoch, nachdem ich die Bücher von Anja Röhl und Hilke Lorenz über die Verschickungskinder gelesen habe. Ich bin mal wandern gegangen und hatte auf einmal ein richtig krasses Heimwehgefühl, eine Dissoziation. Es sprechen ganz, ganz viele von diesem Heimweh oder von Verlustängsten. Dieses Gefühl, ausgesetzt zu sein, sich heimatlos fühlen.

Manche Kinder kamen mit Krankheiten nach Hause, Harnwegsentzündung oder Bindehautentzündung. Wir wissen nicht, woran das lag, an der Nacktheit, der Kälte, Unterkühlung, denn wir mussten in Unterwäsche turnen, oder an sexualisierter Gewalt? Und wenn du sexualisierte Gewalt erlebt hast und du musst noch mal zur Kur fahren, was bedeutet das für ein Kind? Manche wurden auch mit Geschwistern verschickt. Dann empfindest du irgendwie Verantwortung für das jüngere Kind.

Dann diese üblichen Strafen, von denen berichtet wird. Du hast irgendwas gemacht, was der Erzieherin oder dem Erzieher nicht gefällt, und dann wurdest du eine Zeit lang zur Strafe an die Wand gestellt. Oder du musstest dein erbrochenes Essen aufessen. Oder du musstest den Schlüpfer noch mal auswaschen, weil du nicht auf Toilette durftest und deshalb in die Hose gemacht hast. Keine Schutzkonzepte. Jede Aufsichtsperson darf machen, was sie will mit den Kindern. Mit Glück hattest du eine nette Erzieherin gehabt. Aber manchmal eben auch nicht.

Der Heimleiter aus Lychen lebt noch. Man hat die Möglichkeit, ihn zu interviewen. Aber kategorisch lehnt etwas in mir das total ab. Das mache ich nicht selbst. Die meisten Leute, die damals für die Kinderkuren gearbeitet haben, leugnen auch die Gewalt an den Kindern. Das ist auch das Schlimme, dass du keine Gerechtigkeit findest. Ich hoffe auf den Moment, an dem ich mich erinnere; ich weiß, dass mir etwas im Leben passiert ist. Auch aus der Elternperspektive ist das ja etwas, was man sich nicht vorstellen kann: Das Kind redet nicht nach der Kur, reagiert abweisend, auf einmal darf man es als Mutter nicht mehr anfassen.

 

Hanna: Ja, da ist auch nie irgendwas an juristischer Aufarbeitung passiert.

 

Weronika: [An seine Akte] kommt man zum Beispiel gar nicht ran, wenn er noch lebt. Das habe ich oft in meiner Forschung, dass mir Leute ihre Akte nicht geben wollen. Viele Akten sind ja leider auch vernichtet.

 

Ulrike: Mir wurde jetzt eine Kiste mit Materialien aus einem anderen Kinderkurheim zugesendet, die wurde einfach weitergegeben. Es war so ein geordneter Staat und so wichtige Dokumente landen dann irgendwo.

 

Weronika: Die waren panisch am Ende.

 

Hanna: Man weiß nie, wenn der Heimleiter irgendwann mal verstirbt, dass dann nicht doch irgendwann noch mal was auftaucht.

 

Weronika: Das ist ja auch mit solchen Orten wie Torgau so. „Wir haben davon überhaupt nichts gewusst.“ Niemand will irgendetwas gewusst haben - du wohnst zwei Meter davon entfernt.

 

Ulrike: In der Aufarbeitung der Kinderkuren geht es auch um das Bindungsverhalten. Es gab Kinder, die zuvor in Wochenkrippen oder auf Krankenstationen waren und daher schon gar keine Bindung zu ihrer Familie hatten. Und dann sollten sie noch zur Kur fahren und das dann noch teilweise dreimal oder öfter. Und von der Kur sind Kinder dann mit Krankheiten, mit Traumata wiedergekommen. Irgendwie musste uns auch gesagt worden sein, dass wir zu Hause nichts erzählen dürfen.

 

 

Unser Austausch zum Stand der Aufarbeitung heute

 

Ulrike: Wir brauchen eine differenzierte Aufarbeitung: Emotionale Aufarbeitung, um deine eigene Biografie zu verstehen. Dann psychologische, therapeutische Aufarbeitung - für Betroffene manchmal jahrelang eine Therapie. Medizinische Aufarbeitung, Forschung, juristische Aufarbeitung. Menschen, die den Mut haben, zu Kinderkuren in der DDR, zur Staatssicherheit und zu organisiertem Verbrechen zu forschen. Wie viel Geld steckte dahinter? Im Austausch mit den westdeutschen Verschickungskindern merke ich, sie können dieses Staatssystem der DDR und auch dieses Misstrauen, was DDR-Bürger haben, nachvollziehen, aber sie können das nicht so ganz nachempfinden.

 

Weronika: Ich merke das auch daran, was mir von meinen Eltern diesbezüglich weitergegeben wurde. Es ist dieses Genau-Hinhören und dieses Grundmisstrauen in Obrigkeit. Das ist auf jeden Fall etwas, was immer noch sehr präsent ist, aber was man im Westen so nicht nachvollziehen kann. Aber das kriegst du hier auch nicht so einfach raus. Ich meine, wir sind 2001, 2002 geboren.

 

Hanna: Wir sagen immer noch, dass es dieses intergenerationale Trauma ist, was du immer weiter reproduzierst. Leute wie wir, die jetzt heute sagen, hier ist irgendwie was im Kopf, was anders ist als im Westen. Es ist was da. Und es ist unglaublich schwierig, habe ich die Erfahrung gemacht, da Interesse und Verständnis im Westen dafür zu bekommen.

 

Weronika: Die DDR gibt es ja nicht mehr. Das ist doch alles vorbei.

 

Hanna: Dadurch, dass es diese Aufarbeitung in vielen Bereichen so gar nicht gegeben hat, haben natürlich auch viele DDR-Bürger, die jetzt vielleicht nicht in erster Linie betroffen waren, es als Möglichkeit gesehen, damit abzuschließen und auch die eigene Beteiligung damit in die Ecke zu stellen, und zu sagen, das ist vorbei und wir brauchen uns damit nicht mehr befassen. Das macht natürlich eine richtige Aufarbeitung jetzt unglaublich schwierig.

 

Ulrike: Die Arbeit, die wir hier als Betroffene machen, finde ich unwahrscheinlich kritisch: Wir bräuchten eigentlich eine Supervision, therapeutische Begleitung. Manchmal kriegst du E-Mails rein und Leute hauen ihre schreckliche Geschichte raus, was auch richtig ist, das ist Teil des Aufarbeitungsprozesses. Aber ich wurde letztens mal von einem Wort getriggert und dann bin ich richtig abgestürzt. Du bist ja nicht darauf vorbereitet, wenn du eine E-Mail öffnest, du weißt nicht, was in der Nachricht steht, man hat danach keinen Ansprechpartner, der dich auffangen kann.

Jetzt organisieren wir gerade unseren ersten Kongress zur Aufarbeitung der DDR-Kinderkuren in Brandenburg. Der soll am 31. Oktober 2024 in Dahmshöhe in Fürstenberg an der Havel stattfinden, da ist ein Kinderkurheim gewesen. Da sollen drei Workshops stattfinden, ein Vortrag von Julia Todtmann und eben Austausch.

 

Hanna: Und ihr richtet das sozusagen an Betroffene, oder wer ist das Zielpublikum?

 

Ulrike: Der Kongress richtet sich an Betroffene und die Politik. Es ist eher eine Kapazitätsfrage. Durch Social Media hat sich viel bewegt und dadurch sind wir jetzt schon fast 300 Leute in der Facebook-Gruppe. Und jetzt habe ich schon ein bisschen Angst, dass mehr ehemalige DDR-Kurkinder zum Kongress kommen wollen. Wir schaffen wegen der Raumgröße eigentlich nur so 40, 50.

Die Initiative der westdeutschen Verschickungkinder sagen, dass sie die Aufarbeitung der DDR-Kinderkuren unterstützen, aber sie wollen nicht wieder die Wessis sein, die sich einmischen. Letztens in der Sitzung des Familienauschusses im Bundestag mit den westdeutschen Verschickungskindern wurden die DDR-Kurkinder nicht genannt, was etwas enttäuschend war, worüber wir uns aber in der Zwischenzeit ausgetauscht haben. Wir sprechen über die Differenzen, nur so können wir uns begegnen, voneinander lernen, und die Verschickungen aufarbeiten.

 

Hanna: Ich habe manchmal das Gefühl, im Westen ist dieses Prinzip noch nicht so angekommen, die Stimmen von Betroffenen zu verstärken. Es geht nicht darum, dass man für jemand anderen spricht, es geht darum, dass man die eigenen Ressourcen nutzt, um andere Leute sprechen zu lassen.

 

Ulrike: Und manchmal denke ich mir, warum kram ich darin rum, am Ende kriegst du keine Gerechtigkeit, niemanden, der sich irgendwie dafür interessiert, man muss sich selber kümmern. Es gibt Menschen, mit denen ich telefoniere, die schwerste Gewalt erlebt haben, deren Leben stark eingeschränkt ist mit dem Trauma. Sexualisierte Gewalt kann Menschen brechen. Und manche wissen noch nicht mal, dass sie davon betroffen sind, weil in ihrer Therapie die Kur nicht untersucht wird. Ich habe meine Aufarbeitung größtenteils selbst gemacht, weil in Therapien nicht nach der Kur und Traumafolgen geschaut wurde. Es gibt manche Orte, wo es noch nicht mal Traumatherapieangebote gibt. Menschen haben Krankheiten, Panikattacken bis heute. Ich finde es ganz wichtig, dass nicht so einfach dahergesagt werden kann: leg mal deine Vergangenheit ab. Dann kommt ja noch hinzu, in welches Familiensystem du gehörst. Wurdest du nach der Kur familiär aufgefangen? Hast du danach noch in der Schule unter der Kur gelitten? Viele DDR-Kurkinder ehemalige Kurkinder sind nicht mehr arbeitsfähig, beziehen EU-Rente. Wir haben keine Zuständigkeiten: Wenn du diese Aufarbeitung machst, weißt du nicht, wen du ansprechen sollst. Keine Institution fühlt sich für dich zuständig. Die DDR ist untergegangen. Die ganzen Akten sind verloren gegangen, sie gibt es nicht mehr. Man hat nur einige Fotos.

Manchmal frage ich mich: Warum muss ich diese Aufarbeitung als Betroffene machen? Das sind Fälle für die Polizei. Es gibt eine Verjährungsfrist für sexualisierte Gewalt. Das heißt, die Fälle kannst du juristisch nicht mehr aufarbeiten. Es gibt keine Beweise, keine Entschuldigungen, keine Entschädigungen. Wir brauchen Selbsthilfe und Vernetzung, eine Koordinierungsstelle. Wir brauchen Forschung auf DDR-Seite. Institutionen, die sich um uns kümmern. Therapieplätze. Ich war bei der Krankenkasse, damit sie bei der Aufarbeitung der DDR-Kinderkuren helfen. Man erklärt dann da die ganze Dimension, die schrecklichen Kurerfahrungen, danach passiert nichts. Es gibt auch Eltern, die es leugnen, dass es dem Kind in der Kur schlecht gegangen ist. Mit meinen Eltern ging es um Schuld, ich habe irgendwann mal gesagt, dass es darum nicht mehr geht, seitdem ist es besser. Da ist aber ganz, ganz viel Abwehr bei Eltern - weil das Thema verletzlich macht.

 

Hanna: Auch weil man sich sonst immer irgendwas an Beteiligung eingestehen muss. Und ich meine, bei Eltern ist das wahrscheinlich noch mal emotionalisierter, wenn das Kind dir etwas sagt, dann ist das automatisch so eine Anklage an dich selbst. Und dann kommt man automatisch in diese Abwehrhaltung, obwohl das Kind das gar nicht so intendiert hat.

 

Ulrike: Darum geht es ja auch gar nicht. Es geht ja eher um Anerkennung, dass man mit seinem Leid nicht allein ist. Mir geht es ja nicht um Schuld. Mir geht es darum, dass ich endlich reden darf und verstehen kann, warum mein Leben so zerrissen ist. Ich habe schon eine Vision: Eltern, die sich  eine Austauschgruppe schaffen - aber wir haben so schon zu kämpfen. Wir können nicht noch eine Austauschgruppe für alle Eltern gründen. Es wäre für mich ein Wunsch, wo ich denke, es wäre toll, wenn es irgendeine Person von den Eltern geben würde, die das in die Hand nimmt.

Aber was ganz wichtig ist, ist, dass Menschen sich für uns interessieren und uns ernst nehmen, auch in der Politik. Wir wollen einen runden Tisch organisieren mit den Sozialministerien der neuen Bundesländer. Aber wir brauchen ebenso Forschung, Autoren, die über uns schreiben, Journalisten, die über uns berichten, Podcasts. Wir brauchen insbesondere Trauma-Kliniken, die die Thematik kennen. Aber vor allem brauchen wir Geld. Die Therapeuten, die für Menschen, welche die schwerste Gewalt erfahren haben, wirklich wichtig sind, die müssen oft selbst bezahlt werden. Das können viele DDR-Kurkinder wiederum nicht leisten, weil sie durch die Traumafolgestörungen nicht mehr arbeitsfähig sind. Ich suche auch eine Therapeutin, aber ich brauche eine Traumatherapeutin mit speziellen Methoden. Wenn ich an meine Erinnerungen komme, dann ist das kein Zuckerschlecken. Das bedeutet Herzrasen, Atemnot, Flashbacks, all das, was mit einem schweren Trauma einhergeht. Traumatherapie wird auch nicht wirklich als Kassenleistung anerkannt, Opferhilfe gibt es eher für familiäre Gewalt, nicht für institutionelle Gewalt. Dann brauchen wir Mitgefühl, Entschuldigungen, Gedenkskulpturen. Wir sind nicht in den Kinderschuhen, wir sind in den Babyschuhen.

 

Ressourcen und anderes

 

DDR-Kurkinder Instagram: www.instagram.com/ddrkurkinder/

Initiative Verschickungskinder: www.verschickungsheime.de

DDR-Heimliste: www.verschickungsheime.de/ddr-kurkinder

Ulrikes Website: www.ulriketabor.de

 

Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch: 0800 22 55 530 (Mo/Mi/Fr 9-14 Uhr; Di/Do 15-20 Uhr)

Nummer gegen Kummer für Kinder und Jugendliche: 116111 (Mo-Sa 14-20 Uhr)

Nummer gegen Kummer für Eltern: 0800 111 0 550 (Mo-Fr 9-17 Uhr, Di/Do bis 19 Uhr)

Telefonseelsorge: 0800 1110111

 

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