Ist die Teilung überhaupt noch Realität?
Letztes Jahr war
ich auf einer kleinen Tagung. Wie man das so macht, unterhielt ich mich während
der Pausen immer mal mit den anderen Teilnehmenden, und es entstanden
Gespräche, die eben entstehen, wenn alle an ihrem Kaffee nippen oder in mäßig
bis sehr trockene Kekse beißen. Über das Tagungsthema, das Wetter, die Kekse,
das Mittagessen…die Anreise…wobei mir auffiel, dass ich mal wieder als einzige
Ostdeutsche angereist war, weil alle anderen aus Köln, Bonn, Münster oder
Hamburg kamen. Und irgendwann, als man über den Smalltalk hinweggekommen war,
unterhielt ich mich schließlich mit diesem Jurastudenten aus Bonn. Über strukturschwache
Regionen und den Strukturwandel. Und da sagte er zu mir: „Die Teilung ist für
mich keine Realität mehr.“
Wie oft habe ich
diesen Satz in meinem Leben wohl schon gehört? Erstaunlich, wie wütend man über
etwas werden kann, das einem doch fast täglich begegnet. Die Überzeugung: Die
DDR-Zeit, die Wende, die Nachwendezeit – das alles hat heute keine Bedeutung
mehr. Es ist vorbei. Wir sollten uns anderen Themen zuwenden. Das ist eine
gängige Meinung, die in dem Ausspruch „Die Teilung ist für mich keine Realität mehr“
gipfelt, übrigens – jedenfalls mir gegenüber – ausschließlich von westdeutsch
sozialisierten Menschen vorgetragen. Was sich mir dabei direkt aufwirft, ist,
dass solche Menschen Fragen wie: Warum wählt „der Osten“ so rechts? Warum
kommen so wenige Führungskräfte aus „dem Osten“? Warum sind „Ostdeutsche“
weniger erfolgreich im Berufsleben? trotzdem mit „Ach, das ist halt der Osten…“
beantworten und abwinken. Als wäre das unwichtig. Als wären wir unwichtig. Als
gäbe es da keinen Zusammenhang mit dem, was während und nach der Wende passiert
ist – und weiterhin geschieht. Ignorante Überheblichkeit.
Deshalb ärgert
es mich maßlos, wenn mir Menschen, die nicht ostdeutsch sozialisiert sind,
sagen, dass die Teilung keine Realität mehr ist. Schön, denke ich mir. Schön
für dich, dass du das nicht wahrnimmst. (Genauso schön, wie wenn Männer mir
erklären, dass sie nicht das Gefühl haben, Frauen würden benachteiligt werden.)
Aber abgesehen davon, dass es mich aufregt, wenn Leute das nicht wahrnehmen und
glauben, trotzdem darüber urteilen zu können, ist es auch einfach nicht
korrekt. Und darum soll es heute gehen: Ich möchte mit einigen wenigen
Beispielen zeigen, dass die Teilung sehr wohl noch Realität ist. Natürlich existieren noch zahlreiche weitere - aber zum Einstieg sollen diese hier genügen.
Der besagte Jurastudent argumentierte damals damit, auch in Nordrhein-Westfalen gäbe es strukturschwache Region und er könne da keinen Unterschied zum Osten erkennen. Das mag für wenige einzelne Regionen zutreffen, aber alles in allem handelt es sich bei dieser Aussage um anekdotische Evidenz. Den großen Zusammenhang kann sie nicht widerlegen. Für jemanden, der Jura studiert, hat mich das umso mehr verwundert – aber, wie gesagt, solche Aussagen begegnen mir häufig. Schauen wir doch mal auf die Zahlen: 39 der 40 steuerstärksten Kommunen liegen in Westdeutschland. 36 der 40 steuerschwächsten Kommunen liegen in Ostdeutschland. (Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit, 2019) Die Aussage, einige Regionen im Westen seien nicht besser als im Osten, setzt das Problem also in ein völlig falsches Verhältnis. 22,5% weniger Geld für gleiche Arbeit (Handelsblatt, 21.11.2021) erhält man durchschnittlich im Osten. Die Teilung ist also keine Realität mehr? Klar, erzähle mir bitte mehr darüber, wenn du deine durchschnittlichen 171.000€ geerbt hast, die man im Westen bekommt, während ich mit meinen durchschnittlichen 23.000€, die ich erben werde, erstmal meine Bafög-Schulden aus den ersten drei Semestern abbezahle. (RedaktionsNetzwerk Deutschland, 23.02.2023) Natürlich kommen dann immer Leute an: „Aber so viel erbe ich gar nicht, und ich kenne auch niemanden, der so viel geerbt hat.“ Mag ja alles sein. Aber das ist wieder anekdotische Evidenz. Die Zahlen lügen nicht. Der Osten war und ist finanziell massiv schlechter gestellt als der Westen, und das liegt nicht an Faulheit oder fehlendem Durchsetzungsvermögen, sondern an der Vergangenheit, die sich auf die Gegenwart auswirkt und auch Einfluss auf die Zukunft nehmen wird, wenn sich nicht endlich etwas ändert. Die Wende brachte für den Osten 70% Deindustrialisierung (Oschmann, 2023, 42) und es wird erwartet, dass die Voraussetzungen gleich sind?
Diese Daten sind doch da. Ich frage mich wirklich, warum es dann ernsthaft noch Menschen gibt, die sagen können „Die Teilung ist für mich keine Realität mehr.“ Nach dem Gespräch mit dem Jurastudenten ging mir auf, dass er die Sache einfach aus einer anderen Perspektive betrachtet, weil er nicht persönlich von den Problemen betroffen ist – nicht im negativen Sinne betroffen jedenfalls. Den Unterschied nicht zu sehen, heißt in diesem Fall aber auch, das Problem nicht zu sehen. Und wenn das Problem nicht gesehen wird, ist es auch nicht lösbar. Wie zeigt sich das denn nun im Alltag? Ich möchte ein kleines Beispiel anbringen. Ich werde nie vergessen, wie ich bei der Vorbereitung für mein Freiwilligenjahr 2019 in München saß, wo die Seminare stattfanden, und beim Elterngespräch, das in der Abschlussrunde stattfand, die Frage fiel: Wer von euch wird euer Kind im Ausland besuchen? Fast alle Eltern ordneten sich bei „ja“ ein, meine Eltern bei „nein“ und sagten mit einem Lachen, Papua-Neuguinea liegt ja nun wirklich weit weg. Vollkommen legitim! Und dann stand ein anderer Vater auf und meinte entrüstet, das könne er jetzt überhaupt nicht verstehen. Als sein älteres Kind vor einigen Jahren auf die Philippinen geflogen war, hatten er, seine Frau und die Geschwister es natürlich besucht, es gebe nun wirklich keinen Grund dafür, das nicht zu tun, egal, ob das jetzt Papua-Neuguinea wäre oder der Mond. Er kam aus Bayern. Nie werde ich vergessen, wie ich mich in diesem Moment gefühlt habe. Fassungslos darüber, dass er nicht ansatzweise auf die Idee kam, wie unpassend der Kommentar war, fassungslos, dass er es sich leisten konnte, mit der ganzen Familie Urlaub auf den Philippinen zu machen, und fassungslos, dass er das als selbstverständlich ansah. Meine Eltern verdienen als Lehrer im Osten bei Weitem nicht schlecht – aber bei Weitem auch nicht so viel, als dass so eine Reise problemlos machbar gewesen wäre (abgesehen davon, dass ich das auch gar nicht gewollt hätte, weil ich es persönlich ziemlich lächerlich finde, so viel Geld dafür auszugeben, um das Kind zu besuchen, das man nach einem Jahr sowieso wiedersieht - da fallen mir sinnvollere Dinge ein). Aber ungeachtet dessen, auch hier galt: Der Mann sah das Problem einfach nicht.
So oft wurde mir
schon gesagt, dass die Teilung keine Realität mehr sei. Aber für uns ist sie es.
Alle diese Aspekte hängen zusammen. Und deshalb halten wir es für wichtig,
darüber zu sprechen – und zu schreiben. Am Anfang steht dabei, auf das Problem
hinzuweisen, denn ohne Bewusstsein keine Veränderung. Denn wo keine Ahnung ist,
bilden sich dennoch Vorurteile, entstehen dennoch Verletzungen. Dagegen wollen
wir ankämpfen.
Schreibt gerne,
ob es euch ähnlich oder auch völlig anders geht. Kommentare werden gerne
gelesen!
Weronika
P.S.: Als sehr
empfehlenswerte Lektüre verlinke ich hier Dirk Oschmanns Buch „Der Osten – eine westdeutsche Erfindung“, das mir in vielerlei Hinsicht die Augen geöffnet hat;
ich kann es allen, die sich mit der Thematik auseinandersetzen wollen, nur
empfehlen.
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