Zwischen Kindergarten und Christa Wolf - Frauen im Osten

Vor einigen Tagen stellte der Instagram-Kanal von Terra X-History einen Post zur Entwicklung des Sexualkundeunterrichts in Deutschland online. In diesem wird erklärt, dass an diesem Tag vor 54 Jahren der sogenannte "Sexualkunde-Atlas" veröffentlicht wurde, der danach in der BRD für das neu eingeführte Schulfach verwendet wird. Mithilfe des stilistisch sehr eleganten Mittels der Fußnote schafft es der Post sogar, zu erwähnen, dass die DDR der BRD bezüglich der Einführung dieses Schulfaches um fast zwanzig Jahre voraus war. Für mich war diese kleine Infografik eine perfekte Zusammenfassung von der Art und Weise, auf welche Art Debatten zu diesen und ähnlichen sozialen Themen geführt werden: Errungenschaften im Westen werden groß gefeiert, die im Osten schon lange vorher einen Status der Selbstverständlichkeit erreicht haben. Das zeugt einerseits von einer verschobenen Wahrnehmung des West-Ost-Verhältnisses (warum ist in aller Regelmäßigkeit die DDR die Fußnote und die BRD die fettgedruckte Überschrift?), anderseits aber auch von einer West-Ost-Diskrepanz innerhalb der heutigen feministischen Debatte. Dieser Post möchte darauf aufbauend einige Einblicke in meine Perspektive geben: nicht nur als Frau, sondern als Frau, die mit einem ost-geprägten Frauenbild aufgewachsen ist.

Über die Ost-Frau ist viel geschrieben und viel geredet worden. Deswegen gleich vorab, wie immer: DIE Ost-Frau gibt es für mich nicht. Jede Person, die sich als Frau identifiziert und im Osten sozialisiert worden ist, hat eine andere Geschichte und vor allem auch eine andere Meinung zu Themen wie Gleichberechtigung und Feminismus. Aber ich denke schon, dass es gewisse vereinende Aspekte gibt, die einen Unterschied zu im Westen sozialisierten Frauen markieren. Es ist allseits bekannt, dass die DDR in Sachen Gleichberechtigung sehr viel weiter war als die BRD . Die gesetzliche Gleichberechtigung tritt in der DDR 30 Jahre früher in Kraft als in der BRD (1949 vs. 1980, MDR 2023), Frauen sind unabhängig von Ehemann und Co. am Arbeitsmarkt beteiligt (MDR 2023), selbstbestimmte Schwangerschaftsabbrüche werden (in einem weltweit bis dahin einzigartigen Gesetz) bereits 1972 legalisiert und mit der Pille wird ein mögliches Verhütungsmittel kostenlos angeboten (MDR 2022). Dass die Erwerbstätigkeit von über 90% der Frauen in der DDR (MDR 2023) nicht unbedingt auf ein feministisch gesinntes Politbüro zurückzuführen war, sondern primär das sozialistische Vaterland voranbringen sollte, sei mal dahingestellt. Denn die ideologische Vereinnahmung des Kampfes für Gleichberechtigung durch das Regime macht die tatsächlichen Errungenschaften nicht unwirksam, die während einer 40-jährigen DDR-Zeit mehrere Generationen von Frauen prägten und heute immer noch nachwirken.

Auch in einer 20-Jahre-Danach-Gesellschaft hatte ich durchaus weibliche Vorbilder: vielleicht nicht so zahlreich auf der Führungsebene von Großunternehmen oder in der Politik, aber dafür mehr in meiner direkten Umgebung. Meine beiden Omas und meine Mama mit ihrem unglaublichen Fleiß und ihrer Hingabe an ihre Familien haben mich mehr geprägt, als sie es selber wahrscheinlich wissen. Mein Feminismus ist auch ein Feminismus von Christa Wolf, deren Frauenfiguren im Kontext einer Diktatur entstehen, was dem Kampf um Selbstbestimmung noch mal eine ganz andere Bedeutung gibt. Selbst eine gewisse Pfarrerstochter aus der DDR spielt da eine Rolle: ehrlicherweise weniger in Bezug auf politische Inhalte, aber dafür umso mehr bezüglich Disziplin, Bodenständigkeit und Integrität. Meine Mutter ist wie selbstverständlich arbeiten gegangen, meine Geschwister und ich waren wie selbstverständlich im Kindergarten und der Weg zum Erfolg lag nicht unbedingt in guten Kontakten oder der Übernahme einer elterlichen Firma, sondern in Bildung, Bildung und noch mal Bildung. Berichte von Frauen, die sich nach 1989 in den fortschrittlichen Westen aufmachen und dort als Rabenmutter bezeichnet werden, weil sie ihre Kinder in den Kindergarten geben und selbst arbeiten gehen wollen, zeichnen ein faszinierendes Bild dieser Problematik: die BRD erlaubte die Selbstbestimmung nur bis zu einer bestimmten Geschlechtszugehörigkeit, die DDR erlaubte sie nur bis zu den Grenzen des Systems. Das System scheint aber ironischerweise ein bisschen mehr Platz gelassen zu haben.

Auf der anderen Seite sind die praktischen Probleme eines sozialistischen Feminismus in der DDR allgegenwärtig: Etwas anderes als Vollzeitarbeit war kaum möglich. Und auch wenn oft beide Elternteile in einer Familie arbeiten gingen, hing das, was heute als Care-Arbeit bezeichnet wird (also Kindererziehung, Haushalt, Ernährung etc.) meist trotzdem an den Frauen. Diese Erwartungshaltung ist mir genau so auch vermittelt worden: Arbeit und privat hat man parallel zu bewerkstelligen, denn man ist dafür verantwortlich, beides im Griff zu haben. Lange habe ich überhaupt nicht wahrgenommen, dass das Konzept von "weniger als Vollzeit" überhaupt eine Option sein kann und ehrlicherweise kann ich mir auch heute noch nicht wirklich vorstellen, in irgendeiner Form "weniger" zu arbeiten. Eine Doppelbelastung von Geldverdienen und Care-Arbeit ist heute ja zumindest im heterosexuellen Familienmodell auch oft immer noch nicht überwunden. Zudem war tatsächliche weibliche Selbstbestimmung - beruflich, privat oder politisch - allein schon durch den Lebensalltag in einer Diktatur nicht gegeben, und wenig überraschend ließ auch die Frauenquote in der Führungsetage der DDR zu wünschen übrig (MDR 2023). Und trotzdem: man hört heute durchaus Frauen, die DDR-sozialisiert wurden oder dort zumindest aufgewachsen sind und sagen, sie sähen die Notwendigkeit eines modernen Feminismus nicht mehr, weil sie sich seit DDR-Zeiten immer gleichberechtigt und selbstständig gefühlt hätten.

Die relativ gleichberechtigte Position von Frauen in der DDR ist aber keine Entschuldigung dafür, einfach da aufzuhören, wo wir sind. Deswegen glaube ich, dass wir einen modernen Feminismus heute mehr denn je brauchen, und zwar auch im Osten. Das richtet sich auch an alle Frauen, die durch die DDR profitiert haben, sich selbst aus diesem Grund heute nur noch beschränkt von Diskriminierung betroffen fühlen und deswegen anderen Frauen das Recht versagen, für ihre Belange einzutreten. Der Feminismus, der aus der DDR entstand, lässt zu wenig Raum für die Probleme, die es nach wie vor gibt: Sexualisierte Gewalt, Hassverbrechen und Morde an Frauen (Rosa-Luxemburg-Stiftung 2022, bpb 2023), fehlende Unterstützung und Repräsentation für Männer, die nicht dem "klassischen" Männlichkeitsbild entsprechen oder bessere emotionale Kommunikation erlernen wollen, sowie die gläsernen Decken, die sich nach wie vor durch die Gesellschaft ziehen. Die Errungenschaften des DDR-Frauenbilds bewegten sich in den Schranken einer ideologisch-sozialistischen Wahrnehmung der Frau als wichtige Arbeitskraft. Als Frau im heutigen Osten kann man deswegen gleichzeitig positiv zurück- und kritisch nach vorne blicken: Feminismus ist nicht nur Aufklärung und Kindergartenplätze im Osten, sondern auch Solidarität mit Menschen, die noch stärker unter Diskriminierung und Gewalt leiden als man selbst: queere Menschen, besonders trans Frauen, oder Frauen, die von Rassismus betroffen sind. Und derartige Diskriminierung und Gewalt gab es in der DDR genauso wie heute auch noch (hier ein Bericht aus dem Bundesarchiv/Stasi-Unterlagen-Archiv und ein Beitrag zu der Behandlung von Gastarbeitskräften in der DDR).

Was wollen wir aber mit einem Ost-Feminismus, wenn es niemanden mehr gibt, der diesen tragen kann? Der Frauenmangel im Osten macht längst Schlagzeilen, weil gerade die jungen, gut gebildeten Frauen die Gegend verlassen (Welt 2022). Was zurückbleibt, ist eine Männer-Gesellschaft. Es gibt in einigen Regionen auf der Welt ein solches Ungleichgewicht und wer das zu spüren bekommt, das sind nicht unbedingt die jungen, gut gebildeten Frauen, die weggehen, sondern die Gesellschaft der Männer, die bleiben. Es gibt soziologische Überlegungen, die annehmen, dass alleinstehende Männer Tendenzen zu mehr Gewalttätigkeit zeigen als Männer in Beziehungen (Berliner Zeitung/Steffen Mau 2019). Nebenbei: zwei Drittel der AfD-Wählerschaft in Deutschland ist männlich (bpb 2022). Die Sozialstruktur im Osten ist als Folge von absinkender Geburtenrate, Überalterung und Abwanderung aus der Balance geraten.

Ich erwische mich durchaus selber manchmal bei Schuldgefühlen, dass ich es genauso wie viele andere junge, gebildete Frauen mache und die Region und auch den Osten allgemein sehr wahrscheinlich auf längere Zeit verlassen werde, einfach weil es beruflich für mich irgendwann notwendig sein wird. Allein die Existenz dieser Schuldgefühle ist ja eigentlich absurd: Warum sollte ich mich für Schieflagen in der Heimat verantwortlich fühlen, für die ich nichts kann? Aber Frauen lernen, sich für Dinge schuldig zu fühlen, für die sie nichts können, und im Angesicht mancher Statistiken fühlt es sich manchmal an, als würde man seinem Zuhause den Rücken kehren und kampflos aufgeben. Ich persönlich vergleiche mich dann auch mal gerne mit denen meiner Freundinnen, die später zurückkommen wollen (denn die gibt es auch durchaus): Lasse ich jemanden im Stich, Familie, Freunde oder gleich die ganze Gesellschaft im Osten?

 Was also tun, um dieses Ungleichgewicht auszugleichen? Ein Ansatz scheint offensichtlich: es muss sich lohnen, herzukommen. Und umschrieben heißt das: es muss möglich sein, hier nach Abschluss von Studium etc. berufliche Möglichkeiten zu finden, die mit denen in Westdeutschland konkurrieren können. Also Arbeitsplätze, Internationalisierung, Infrastruktur. Überraschung, Überraschung! Das sind ja genau die Themen, die zufällig auch in anderen Bereichen wichtig werden könnten, nämlich bei so nebensächlichen Vorhaben wie dem Kohleausstieg. Da könnte man ja zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Und es gibt auch jetzt schon spannende Entwicklungen in dieser Richtung: Erinnert ihr euch an den sogenannten gender pay gap, also die ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern für gleiche Arbeit? Dieser ist im Osten umgekehrt, da verdienen nämlich die Frauen zur Abwechslung mal mehr (ZEIT 2022). Immer, wenn die Gehaltsunterschiede zwischen Männern und Frauen öffentlich diskutiert werden, scheint das nur niemand zu wissen. Also an alle Frauen, die noch nicht wissen, wo die Reise hingehen soll: Kommt in den Osten! Hier verdient ihr zwar weniger als im Rest Deutschlands (Tagesschau 2022), aber immerhin mehr als die Männer :)


Hanna

Kommentare

  1. Kleine Anmerkung, falls das nicht ganz klar war: Es ist natürlich definitiv nicht die Aufgabe/Verantwortung von Frauen, im Osten zu bleiben, um dafür zu sorgen, dass weniger AfD gewählt wird bzw. männliche Gewalt abnimmt. Das ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, wofür in erster Linie AfD-Wählerschaft und gewalttätige Männer verantwortlich sind. Aber es ist wichtig, diese soziologischen Zusammenhänge zu verstehen, denn sie spielen leider genau so wie z.B. Überalterung der Gesellschaft bei bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungen wirklich eine Rolle. Das Stichwort hier ist: Erklären, nicht Entschuldigen. Sorry, falls das unklar war :)

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