Weil "Heimatliebe" nicht AfD bedeuten muss - ein Text über Wut und Hoffnung

Das hier ist ein Statement, ein Statement zu den aktuellen politischen Entwicklungen in Ostdeutschland, die sich während der letzten paar Wochen ereignet haben. Aber dieses Statement soll nicht passiv lamentieren, keine Argumentation auf der Basis rechts ist blöd, weil ich links bin. Sondern es ist eine Gelegenheit für mich, Dinge zu sagen, die mich seit Wochen beschäftigen und mich manchmal nachts nicht mehr schlafen lassen: es wird ein wütender Text werden, ein Text, der mir in seinen Einzelteilen seit dem 25.06. im Kopf herumgeistert, eigentlich aber natürlich auch schon viel früher da war. Ein Text über Gefühle, die vielleicht vielen bekannt vorkommen dürften, die seit Jahren einen Stich im Herzen verspüren, wenn sie an ihre Heimat denken.

Heimat, was ist das überhaupt. Heimat und Herkunft können sich unterscheiden, bei mir überschneiden sie sich allerdings ziemlich breit. Ich komme aus Görlitz, genauer gesagt aus Klein-Neundorf, zwei Straßen, beides Sackgassen, weil dann irgendwann ein See kommt, Flutungsbeginn im Jahr meiner Geburt 2002, innerfamiliär bei uns manchmal als Grube bezeichnet. Als Kind habe ich an der Wasserkante mal ein Stück Kohle gefunden. Der Ort ist meine Herkunft, aber auch meine Heimat, die Erstheimat neben der Zweitheimat Jena. Und auch Ostdeutschland ist meine Herkunft, aber auch meine Heimat. Ich bin gerne hier, ich mag die Menschen, ich mag die Natur, ich mag die Kultur. Mit jeder neuen Wahl, mit jedem neuen Bericht über den Stand der Demokratie in Ostdeutschland stellt sich mir aber die leise Frage: Möchte ich noch gerne hier sein, schaffe ich das noch, die Menschen hier zu mögen? Und ja, das ist zu kurz gefasst und verallgemeinernd, das mag polemisch klingen, weil es die simple und unreflektierte Gefühlsbeschreibung einer frustrierten jungen Frau aus dem Osten ist, die Angst hat. Und es ist umso unreflektierter, da ich ja genauso wie Weronika diesen Blog aus genau dem Grund angefangen habe zu schreiben, dass uns die Vorurteile auf die Nerven gehen, dass uns die Wessis auf die Nerven gehen, die den Osten immer noch als rückständig bezeichnen oder davon ausgehen, dass hier "doch alle rechts" sind. Wir wollten mit Klischees aufräumen und hören seit Wochen in den Nachrichten von einer Bestätigung genau dieser Klischees.

Damit wir es noch mal schwarz auf weiß sehen, kommt jetzt erst mal eine kurze Bestandsaufnahme. Laut einer Wahlumfrage vom 12.06.23 könnte die AfD bei den Landtagswahlen in Sachsen nächstes Jahr mit 32,5% der Stimmen die Mehrheit im Parlament stellen. Am 25.06.23 wurde der AfD-Kandidat Robert Sesselmann mit 52,8% zum Landtag im thüringischen Landkreis Sonneberg gewählt. Am 28.06.23 schrieb die Tagesschau unter der bildzeitungsreifen Überschrift "Sehnsucht nach einem autoritären Staat" (für die ich mich als öffentlich-rechtlicher Rundfunk ehrlich gesagt in Grund und Boden schämen würde), dass über die Hälfte der Ostdeutschen mit dem politischen System, wie es im Moment sei, nicht zufrieden seien. In den Kommentaren finden sich Juwelen der politischen Bildung wie "Dann wäre doch der nächste Schritt, dass man über eine Trennung Deutschlands in Westdeutschland und in Ostdeutschland diskutiert und diese so schnell wie möglich auch realisiert." von KeinWeiterSo oder "Projekt Wiedervereinigung ist gescheitert. "Wir" sind nicht EIN Volk." von harpdart. Ein herzliches Dankeschön an dieser Stelle besonders an diese beiden starken Verteidiger*innen des Rechtsstaats gegen die demokratieunfähigen, führerkultvermissenden Ossis. Sicher werden sie weiterhin konsequent dafür kämpfen, dass der gesamte Osten zur Strafe den Sandkasten verlassen muss und sie wieder alleine mit ihrem Grundgesetz spielen dürfen. Am 04.07.23 wird in Raguhn-Jeßnitz, Sachsen-Anhalt, der erste AfD-Bürgermeister gewählt, Hannes Loth. Am 05.07.23 prognostiziert der MDR der AfD in Thüringen ein Ergebnis von 34%, neun Prozent mehr als vor einem Jahr.

Als ich die Nachricht von Sonneberg gehört habe, war mein erster intuitiver Gedanke: Immerhin ist es nicht Görlitz. Denn es hätte Görlitz sein können: Vor vier Jahren wären wir fast die erste deutsche Stadt mit einem AfD-Oberbürgermeister geworden, bis Sebastian Wippel in der Stichwahl von dem CDU-Kandidat Octavian Ursu geschlagen wurde, zu dessen Wahl alle anderen Parteien aufgerufen hatten, um einen Sieg Wippels zu verhindern. In Sonneberg hat jeder zweite Wahlberechtigte einen Kandidaten der Partei gewählt, deren prominentestes Gesicht in Thüringen Björn Höcke ist, bei dem ich mal so frei bin, ihn als Nazi zu bezeichnen („Das Problem ist, dass Hitler als absolut böse dargestellt wird.“, Höcke 2017). Ich habe, bevor ich für das Studium nach Jena gezogen bin, bewusst die Entscheidung getroffen, meinen Erstwohnsitz in Görlitz zu behalten, um dort an den Kommunalwahlen teilnehmen zu können. Nächstes Jahr wählt Sachsen einen neuen Landtag. Die momentane Prognose gibt die AfD als stärkste Kraft an, das heißt, wenn die sächsische CDU sich gegen eine Minderheitsregierung entscheidet, bleiben nicht mehr viele Optionen. Und wenn die CDU ihre "Brandmauer gegen rechts" weiter erodieren lässt oder mit dem Argument "ABER DER LINKSEXTREMISMUS" die Zusammenarbeit mit der Linken verweigert, dann könnte es sein, dass wir tatsächlich bald einen rechtsextremistischen Verdachtsfall in der sächsichen Regierung haben. Die Frage "Was hätten wir anstelle unserer Urgroßeltern getan" ist dann nach drei Generationen nicht mehr nur eine theoretische.

Und ich hasse es, dass es so ist. Weil ich meine Heimat und den Osten liebe. Weil ich glaube, die Leute hier haben das Zeug zu Demokratie, Toleranz, Offenheit und Optimismus. Weil es mir im Herzen wehtut, wenn ich sehe, wie sich viele stattdessen für Hetze, Hass und Angstmacherei entscheiden. Wer die AfD im Osten (aber nicht nur dort) wählt, kann dafür viele Gründe haben. Es kann die Tatsache sein, dass gestohlene Autos auf EU-finanzierten Videokameras zu sehen sind, wie sie über die Grenze gefahren werden, um drei Kilometer weiter in einer Scheune umlackiert zu werden und dann auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Es kann die Antipathie gegen eine wahrgenommene Diktatur bzw. gegen eine vermeintliche Einheitsmeinung sein, die als generationenübergreifendes Trauma weitergegeben wird. Es kann ein Impfschaden nach einer Corona-Impfung sein, den Ärzt*innen nur hinter vorgehaltener Hand diagnostizieren und mit dem man sich weder gehört noch unterstützt fühlt. Es kann die Angst vor einem Arbeitsplatzverlust sein, oder das Gefühl, das eigene jahrzehntelange Schuften in einem Kohlekraftwerk würde von Menschen belächelt und abgewertet, die sich noch nie im Leben die Hände schmutzig gemacht haben, um Essen auf den Tisch zu bringen. An diesen Punkten setzt die Partei mit Populismus und reißerischen Aufhängern an, um Stimmen zu gewinnen. Und ich fahre über das Wochenende nach Hause, in schönstem Wetter, und muss schlucken, wenn wir auf dem Weg vom Bahnhof an Plakaten vorbeikommen, auf denen in großen Lettern "Grenzschutz jetzt" steht. Weil ich verstehe, wie Populismus funktioniert und welche perfiden Taktiken und verdrehten Argumente die AfD einsetzt, aber weil ich trotzdem auch weiß, dass sie damit Erfolg haben wird.

Es sind keine dummen Leute, die die AfD wählen, und die mediale Darstellung der Ostdeutschen als demokratieunfähig und zu blöd zum "richtig wählen" hat, wie zu erwarten war, eine Trotzreaktion provoziert, die nur noch weiterhin zum Erfolg der AfD beitragen wird. Aber man kann sich nicht alles schönreden, eine Tatsache bleibt: Nicht alle AfD-Wählende sind Nazis, aber sie alle wählen eine Partei, die die geistige und politische Tradition dieser fortsetzt (Und es gibt auch genug AfD-Wählende, die einfach tatsächlich Nazis sind). Manchmal will ich mich einfach hinstellen und ihnen ins Gesicht rufen: Macht die Augen auf, schaut hin, wem ihr da zu Macht verhelft, denn die Leute, die ihr wählt, sind der Meinung, dass einige Menschen mehr wert sind als andere, dass einige Leben weniger wert sind als andere, und bitte, bitte, wir hatten das alles schon mal und wir können es nicht noch einmal passieren lassen. Ein zweites Mal wird uns unser "Wir haben ja nichts gewusst" nicht mehr als Ausrede dienen können (das war ja schon beim ersten Mal ein fragwürdiges Argument). Jeder, der heute die AfD wählt, hat dafür eigene Gründe, aber keiner dieser Gründe rechtfertigt die bewusste Entscheidung für eine teilweise schlicht und einfach rechtsextreme Partei in einem Deutschland, in dem die Überreste von Konzentrationslagern weiterhin stehen. Und in einem Ostdeutschland, in dem es noch nicht lange her ist, dass hier Menschen regierten, die für ihren Anspruch auf "die eine Wahrheit" zwar über Leichen, aber nicht über Mauern gingen.

Wie also damit umgehen? Ich fühle mich in letzter Zeit so hin- und hergerissen wie schon lange nicht mehr. Es fühlt sich manchmal an wie in einem Albtraum, in dem du genau weißt, was passieren wird, aber du kannst dich nicht bewegen, nichts tun, nur wie ein verschrecktes Reh den Lichtern des Autos entgegenblicken. Und dabei tue ich doch Dinge, ich versuche es ja. Schreibe einen Blog, organisiere Veranstaltungen für Dialog und Perspektivwechsel, gebe mein Bestes, für Menschlichkeit, Solidarität und friedliches Miteinander einzustehen. Aber dann kommt das nächste Wahlergebnis rein, die nächste Umfrage, und man hat das Gefühl, gegen eine Wand anzureden, weil sich doch eh nichts verändern wird. Ich liebe meine Heimat, aber manchmal habe ich das Verlangen, einfach wegzugehen, weit weg, bis ich irgendwo rauskomme, wo keine blauen Wahlplakate an den Laternenmasten hängen. Wo man nicht bei jeder Zurschaustellung einer deutschen Fahne innerlich zusammenzuckt. Wo man seine Nachbarn nicht kennt und dementsprechend auch nicht weiß, dass das Auto, auf dem hinten der übergroße Schriftzug in Fraktur draufklebt, den Leuten gehört, die immer alle im Dorf grüßen und bei jedem Dorffest dabei sind. Wo jede Statistik über rechtsextrem motivierte Gewalt näher an einen selbst heranrückt. Ich will, dass meine innere Stimme verstummen kann, die mich fragt, ob die Person, mit der ich gerade rede, wohl meine Werte teilt, oder ob sie nicht vielleicht doch Menschen verurteilt, weil sie anders sind. Und es macht mich so unglaublich wütend, dass wir es immer noch nicht schaffen, unseren Artikel 1 so in die Köpfe und in die Gesellschaft einzubrennen, wie wir es müssten.

Ich kann es nicht wissen, wie man aus dem Westen auf Ostdeutschland und seine AfD-Wählerschaft blickt. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass man die Gefahren einer polarisierten Gesellschaft erst hier richtig zu spüren bekommt. Die innerliche Zerissenheit, wenn man weiß, dass Leute, die man kennt und mag, AfD wählen. Das Gefühl, wenn ein tatsächlich sinnvoller Antrag im Stadtrat von allen anderen Parteien abgelehnt wird, weil er von der AfD kommt: Nicht-Einknicken, Zusammen gegen Rechts, Einstehen für Gerechtigkeit, Toleranz und Demokratie, Haltung zeigen, ja, aber diese Aktion hat ihnen jetzt zehn neue Wählende beschert. Das Zuschauen dabei, wie der Osten öffentlich auseinandergenommen wird, aber sich dann die Klischees zum wiederholten Mal bestätigen, und immer dabei das Gefühl, was auch immer man selbst tut, es bringt nichts, es bringt nichts. Das sind Gefühle, und davon bin ich überzeugt, die man nur verstehen kann, wenn man hier groß geworden ist. Aber es sind Gefühle, die valide sind und über die man reden muss, weil sie für uns zur Lebensrealität gehören und weil sie eben auch beweisen: Es sind eben nicht alle rechts hier, es ist nicht zu spät und es gibt sie noch, die Hoffnung, dieses kleine Stückchen Zuversicht, welches ich mir schon manchmal wieder ausgraben musste aus dem Boden, aber noch habe ich die Schaufel nicht aus der Hand gelegt, und ich glaube, dass auch andere sie wieder aufnehmen können.

Das Wochenende, welches ich letztens in Görlitz verbracht habe, bestand nicht nur aus innerlicher Verzweiflung angesichts der sich wieder ausbreitenden Wahlplakate. Es bestand auch aus einem Theaterbesuch der etwas anderen Art, immersives Theater im Görlitzer Güterbahnhof. Das Stück selber: eine Tragödie, Machtkämpfe zweier Brüder bringen ihre Schwester zu Tode, nicht besonders hoffnungsversprechend, eher das Gegenteil. Aber das Stück war ausverkauft, und nicht nur an diesem Abend, sondern es scheint auch für die restliche Laufzeit ausverkauft zu sein (was schade ist, weil ich es sonst noch an die Leserschaft dieses Blogs hätte empfehlen können). Das Stück war ausverkauft und es wurde im Anschluss diskutiert und debattiert und analysiert, neben einer Feuerschale an einem Sommerabend. Die ältere Dame, die vor mir die Szene verließ, hörte ich zu der Aufsichtsperson sagen, wie sehr sie doch hoffe, dass das Theater in Görlitz weiterhin überlebt. Dieser Theaterbesuch, so innovativ und kreativ und leidenschaftlich und spannend er war, zeigt für mich die Dualität, die wir im Osten haben: Wir haben nun mal eine Gesellschaft hier, die im Spannungsfeld von Geschichte, Emotionen, Grenznähe, geringeren Löhnen, politischer Spaltung, struktureller Benachteiligung, Kohleförderung und manchmal auch menschlicher Sturheit vor einer Zerreißprobe steht. Aber wenn man sich mal umschaut, dann kann der Osten so viel. Mehr als nur AfD, mehr als nur eine Wahrnehmung des Westens. Kultur, die vermitteln kann. Demokratie, die erschaffen kann. Solange wir, die wir nun mal hier sind, nicht aufhören, mutig zu sein und daran zu glauben, dass wir nicht allein sind und dass die Region es wert ist, sich für sie einzusetzen. Mit der Hoffnung hält es sich wie mit dem Wahlrecht: Man darf sie nie aufgeben.

Hanna

Kommentare

  1. Die emotionelle Temperatur Ihres Statements hat mich sehr positiv berührt! Ich hoffe, solche Menschen wie Sie wird es immer noch geben. Mit solchen Einstellungen zum gesellschaftlichen Leben!

    AntwortenLöschen

Kommentar veröffentlichen