Meine Mitbewohnerin seit mittlerweile anderthalb Jahren studiert Wirtschaft in Jena, hat gerade ihre Masterarbeit abgegeben und arbeitet nebenbei bei einer Frankfurter Bank, wodurch sie hin und wieder für etwaige bank-bezogene Tätigkeiten nach Frankfurt muss (falls jemand genauere Infos dazu hat, wie solche Tätigkeiten genau aussehen, lasst es mich wissen). Sie ist zum Studium nach Deutschland gekommen und da sie mit mir zusammenwohnt, hat sie des Öfteren das Vergnügen, meinen genervt-belustigten Ausführungen über das innerdeutsche Verhältnis zuhören zu können. Vielleicht kommt irgendwann noch mal ein kleines Interview dazu, wie sie die Ost-West-Situation in Deutschland wahrnimmt, die Gespräche mit ihr sind immer sehr aufschlussreich für mich und helfen dabei, das Ganze von außen zu betrachten.
Für diesen Beitrag heute ist ein Erlebnis relevant, von dem sie mir letztens erst erzählt hat. Sie verbrachte ihren Frankfurter Feierabend mit ihren Kolleg*innen (ein Widerspruch in sich) und ihr Chef muss wohl die Gelegenheit genutzt haben, um irgendetwas Abfälliges über Ostdeutschland zu sagen. Sie hat sich nicht mal getraut, mir zu erzählen, was es konkret war. Dazu sage ich jetzt mal nichts. Meine Mitbewohnerin ist natürlich durch ihr Zusammenleben mit mir vorgeprägt, hat ihm Kontra gegeben und ihm diesen Blog gezeigt. Ein herzliches Dankeschön an sie für das Einstehen für eine Sache, die sie eigentlich gar nicht betrifft. (Als kleiner Tipp nebenbei: Das Konzept des Einstehens-für-etwas-was-mich-nicht-direkt-selbst-betrifft kann man super auf andere Situationen übertragen.)
An sich ist es schon eine interessante Sache, dass Frankfurter Business-Menschen nichts Besseres zu tun haben, als in ihrer Freizeit über den Osten zu lästern. Es bestätigt auch wieder mal, dass das Thema Ostdeutschland ja offenbar wirklich in ganz Deutschland relevant ist: Im Osten wird eine kritisch-selbstreflektierte Debatte über ostdeutsche Identität geführt, während man im Westen auf unsere Kosten Witzchen macht, um sich selbst besser zu fühlen. Und das kann man machen, weil man gebildet ist und Geld hat und man ist ja wichtig und sowieso. Ostdeutschland dumm unwichtig Nazis. Die sollen da mal zu jammern aufhören, das kann ja keiner mehr hören.
Deswegen: Hier ist eine kleine Botschaft an alle Wessis, für die es identitätsstiftend ist, keine Ahnung von Ostdeutschland zu haben und diese auch nicht haben zu wollen: Ja! Macht eure Witze über uns, gerne, ich lade euch herzlich dazu ein, Lästern ist gut für die Seele, wenn auch schlecht fürs Karma. Lacht über Dunkeldeutschland und seine Bevölkerung, das Leben ist zu kurz, um sich jeden Spaß wegnehmen zu lassen, und das Gute an diesen Ossi-Witzen ist ja, dass man keine bedeutenderen Hirnfunktionen aktivieren muss, um sie zu machen. Ich selber würde mich dann ausklinken und zu der oben erwähnten kritisch-selbstreflektierten Debatte im Osten zurückkehren, die hat mir ein bisschen mehr Substanz. Und die Leute sind auch cooler drauf.
Viele dieser Leute, die zwar durchaus eine Meinung zur Ost-West-Debatte haben und diese bitteschön auch gehört haben wollen, haben den Osten faszinierenderweise nie besucht. Ja, dabei ist Berlin außen vor. Deswegen kommt in diesem Beitrag ein kleiner Reise-Guide mit Tipps und Empfehlungen für alle, die ähnlich wie ich auch keine Lust mehr auf die langsam aber sicher totgetretenen Ost-Witze haben und Ostdeutschland stattdessen gerne richtig kennen lernen würden. Ich habe dabei die Großstädte wie Dresden oder Leipzig außen vorgelassen, denn deren Tourismus-Einnahmen stellen schon jetzt einen größeren Teil ihres jährlichen Haushalts und benötigen, im Gegensatz zu vielen kleineren ostdeutschen Orten, kein Nachhelfen. Stattdessen sind hier einige kleinere, vielleicht auch weniger bekannte Reiseziele im Osten gesammelt, die einen schönen Urlaub praktisch garantieren. Für diese Ziele braucht man kein Visum, keine gewechselten Geldscheine und zum Glück auch kein Flugzeug, stattdessen kann vielleicht ein interkulturelles Training nicht schaden. Um in den Osten zu kommen, steigt ihr einfach ins Auto oder in den Zug (bevorzugt, wenn auch aufgrund des seit dreißig Jahren anhaltenden Streckenrückbaus teilweise schwierig. Weiß auch nicht, was damals genau passiert ist, aber irgendjemand mochte da wohl keine öffentlichen Verkehrsmittel.).
Wer gerne draußen ist, hat die Qual der Wahl unter den zahlreichen ostdeutschen Naturparadiesen. Ihr könnt in den Harz fahren, den Brocken besuchen (meine Schwester und ich können bezeugen, dass das vor allem bei Schneesturm richtig super ist) oder die wirklich wunderschöne Stadt Wernigerode anschauen, die sich besonders gut macht, wenn man bei Ausflügen gerne Fotos für Instagram mitnimmt. An der Rappbodetalsperre kann man sich an ein Seil schnallen lassen und einen Kilometer lang mit der Harzdrenalin-Zipline durch die Luft fliegen. Und nein, es gibt keine Schadenersatz-Zahlung für diesen Wortwitz. Südlich davon, an der Grenze zu Thüringen, gibt es den Kyffhäuser-Gebirgszug, der mit seinem Denkmal nicht nur optisch beeindruckt, sondern auch namensgebend für eine Burg in der Modelleisenbahn meiner Familie war. Friedrich Barbarossa, die deutsche König-Artus-Variante, sitzt laut der Sage seit 800 Jahren unter dem Berg und wird wieder hervorkommen, sobald die Raben nicht mehr um den Berg fliegen. Ihr könntet Questenberg besuchen, ein kleines Dorf in einem malerischen Harztal, dessen Umgebung durch seine durchschnittliche Steigung geradezu zum Wandern herausfordert.
Aber es gibt nicht nur den Harz, und wer sich weiter vorwagt in den Dschungel Ostdeutschlands, wird belohnt werden. Im Museum der Arche Nebra in Sachsen-Anhalt gibt es Einblicke in Deutschland und Europa zur Bronzezeit und den Fund der Himmelsscheibe von Nebra, einem bedeutenden bronzezeitlichen Fund, was sich super durch einen Besuch des Landesmuseums für Vorgeschichte in Halle ergänzen lässt. Für Musikbegeisterte: in Halle gibt es unter anderem auch ein Beatles-Museum, und obwohl sich bei unserem Besuch damals die Begeisterung meines 16-jährigen Ichs in Grenzen hielt (immerhin fanden meine Eltern das Museum gut), lohnt es sich definitiv, vor allem, wenn man im Hinterkopf behält, dass Rockmusik es hier nicht immer so einfach hatte wie im Westen. In Thüringen gibt es natürlich Weimar, für alle Leute, die nicht genug von Kultur bekommen können. Die Chancen darauf, bei einem Besuch in Goethes Stadt eine Faust-Inszenierung zu erwischen, stehen nicht schlecht. Pflichtprogramm sollte hier möglicherweise auch der Besuch der Buchenwald-Gedenkstätte sein.
Wer immer noch nicht genug hat, kann jetzt natürlich allen Mut zusammennehmen, um tatsächlich Sachsen zu besuchen. Da könnte man in Bautzen stoppen, eine knappe halbe Stunde vor der polnischen Grenze. Dort lässt es sich sehr schön ins Theater gehen, die Altstadt bewundern und das Gelbe Elend besuchen, ein ehemaliges Stasi-Gefängnis. Auch das ist deutsche Geschichte und es ist nicht nur die Verantwortung der Ostdeutschen, sich mit diesem Teil auseinanderzusetzen. Hier liegt einer der Schlüssel zum Verständnis noch immer existierender Unterschiede in der Mentalität, der Herangehensweise an bestimmte Themen oder der weiterhin anhaltenden Prägung heutiger Generationen Ostdeutschlands (dazu kommt demnächst noch ein separater Beitrag), was dementsprechend auch zum Verständnis Gesamtdeutschlands dazugehört. Im Osten Sachsens gibt es dann noch das Zittauer Gebirge, da lässt es sich ebenfalls super wandern und Fahrrad fahren, beispielsweise zum Oybin oder um Jonsdorf herum. International bekannt ist die Erzgebirgsregion, wo es besonders in der Weihnachtszeit wunderschön ist.
In Brandenburg liegt die Uckermark, super geeignet für alle möglichen Formen von Urlaub, Outdoor-Aktivitäten, Paddeln, Wandern, Segeln. Es gibt dort sogar solche spannenden Sachen wie morgendliche Floßtouren mit Alphornmusik (habe mir sagen lassen, das soll richtig schön sein). Wer sich für slawische Sprache und Kultur interessiert, könnte in das Naturparadies Spreewald südlich von Berlin fahren, besonders, wenn man sich einen Urlaub ohne Wasserkontakt nicht vorstellen kann. Als Zeugnis einer aller Voraussicht nach dem Untergang geweihten Kultur (denn als Kultur kann man es durchaus bezeichnen) lohnen sicher auch die Gruben des Lausitzer Braunkohlereviers einen Ausflug, zum Beispiel Boxberg oder Nochten. Weiter nördlich haben wir dann noch die Mecklenburger Seenplatte und zahlreiche große und kleine Ostseebäder inklusive mehr als genug FKK-Strände. Ich war auf einem kleinen Solo-Trip letztes Jahr unglaublich begeistert vom Dock Inn Hostel in Warnemünde, wo man in sehr gemütlichen ausrangierten Schiffscontainern übernachten, in der hauseigenen Kletterarena bouldern und sich in der Hostel-Küche spontan zu Ausflügen für den nächsten Tag verabreden kann.
Als letzte Empfehlung folgt jetzt noch diese: Wenn man schon mal so nah dran ist, könnte man die Ostdeutschland-Tour
auch ergänzen durch einen Besuch in unseren Nachbarländern Polen oder
Tschechien, denn besonders in der Dreiländereck-Region gibt es so viele tolle Gegenden und Orte für Outdoor-Aktivitäten, Wintersport oder Städtetrips, dass es den Rahmen des Beitrags sprengen würde, diese aufzuzählen. (Ihr merkt, ich bin gerne hier. Habe auch gerade schon wieder selbst Lust bekommen, irgendwohin wandern zu fahren.)
Ich hoffe, ihr seid jetzt schon alle fleißig bei der Reiseplanung. Das finde ich super, denn es ist schön hier und das sollten mehr Leute mitbekommen als nur die, die schon hier sind und sich auskennen. Zum Schluss dieses Textes habe ich allerdings eine kleine Bitte, im Sinne des bereits erwähnten interkulturellen Trainings. Sofern ihr noch nie hier wart und west-sozialisiert seid: Wenn ihr im Osten Menschen trefft, die vielleicht etwas anders drauf sind als ihr, die auf andere Dinge Wert legen oder die ihr vielleicht nicht gleich nachvollziehen könnt, versucht doch bitte, diese Menschen nicht in Schubladen einzuordnen. Das fällt schwer, ich weiß, das fällt sogar mir manchmal schwer, und ich habe mein ganzes Leben hier verbracht. Aber es ist enorm wichtig für eine Kultur des gegenseitigen Verständnis. Auch im Osten halten sich hartnäckig so einige Vorurteile über den besserwissenden Wessi, die ihr vielleicht nicht gerade bestätigen müsst. Wenn ihr hier seid, dann denkt daran, dass der Westen nicht die Norm und der Osten die Abweichung ist, auch wenn ihr bisher vielleicht keinen Grund hattet, diese Einteilung infrage zu stellen. Ja, Ostdeutsche fahren vielleicht öfter in den Westen als Westdeutsche in den Osten, und jetzt seid ihr diejenigen, die das ändern können.
Und bevor sich hier jemand nach Lektüre dieses Beitrags wundert, warum ich eine gewisse ostdeutsche Kleinstadt nicht als Empfehlung erwähnt habe: nun ja. Kommt ruhig nach Görlitz. Aber bitte nicht alle auf einmal, und auch bitte nicht zu viele. Sonst kriege ich noch Ärger, wenn ich die Gentrifizierung vorantreibe.
Hanna
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