N5-Symposium 2023. Ein Rückblick

Vom 17.-18. November diesen Jahres fand in Erfurt das von uns vielfach angekündigte N5-Symposium statt. Da Hanna sich dieses Semester in Leuven in Belgien aufhält, machte ich mich allein auf den Weg (der nicht sonderlich weit war, ganze sieben Minuten mit dem Fahrrad, und allein war ich auch nicht, da ich mich in Gesellschaft einer Freundin, meiner Cousine und ihres Freundes befand). Da ich das Konzept des Symposiums für sehr sinnvoll halte, möchte ich natürlich darüber berichten. Viele der Veranstaltungen fanden parallel statt, aber meine Begleiter*innen waren so freundlich, ihre Eindrücke mit mir zu teilen, sodass ich sie hier verarbeiten kann. Und dieser Beitrag kommt, obwohl ich ihn schon vor drei Wochen geschrieben habe, jetzt erst online, weil wir in der letzten Zeit einfach so viele Themen zu beschreiben haben, dass er jetzt erst hereingepasst hat!     

Die Studierendenkonferenz für die Neuen Bundesländer (oder die ostdeutschen Bundesländer, wie ich sie lieber nenne) begann am Freitagnachmittag mit einer kurzen Eröffnung im Kontor Erfurt, dem Tagungsort. Dabei wurde auch ein Grußwort des thüringischen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow eingespielt. Generell fanden sich verschiedene abwechslungsreiche Formate unter den Veranstaltungen: Keynotes, Panels, Talks, Workshops und Slams.

Als Erstes besuchte ich ein Panel zu Business-Events in Ostdeutschland mit Hiskia Wiesner, Thomas Kahn und Matthias Schultze, alle drei haben Managing Director-Positionen bei verschiedenen Tagungsunternehmen. Dort lernte ich, dass weltweit jede 10. Dienstreise nach Deutschland stattfindet; europaweit sogar jede 5. Das Panel setzte sich mit der Frage auseinander, wie eigentlich mehr dieser Events im Osten stattfinden könnten (denn, Überraschung – die meisten finden im Westen statt). Tagungen bieten nämlich ein großes Potenzial für die Orte, in denen sie stattfinden – es entsteht eine regelrechte Wertschöpfungskette. Für Leipzig wurde sogar ein entsprechender Imagefilm gedreht, um mehr potenzielle Kund*innen von der Stadt als Tagungsort zu überzeugen. Außerdem wurde überlegt, wie die Konferenz der Zukunft aussehen könnte. Mit digitalen Konferenzen haben wir ja in den vergangenen dreieinhalb Jahren wahrscheinlich zu genüge unsere Erfahrungen gesammelt, aber wie wäre es, mit einem Avatar an der Konferenz teilzunehmen, ohne sein zuhause verlassen zu müssen? Eine wilde Vorstellung. Leider gab es, wie bei den meisten Panels an diesem Wochenende, nicht ausreichend Zeit, um Publikumsfragen im größeren Stil zu beantworten.     
Währenddessen besuchte meine Freundin Alicia einen Talk zu "Female Empowerment" und empfand es mit Aussagen wie "In der Politik ist kein Platz für unsere Hormonschwankungen" als sehr unangenehm. Frauen würden zudem gerade deshalb momentan in der Politik genommen, weil das gerade hip sei. Alles in allem war Franziska Baum von der FDP nicht sehr überzeugend.     
Nach einer kurzen Pause (übrigens war das ganze Wochenende über ein Barista anwesend, schon ziemlich cool) und Kaffee ging es weiter mit dem Talk "Zalando - eine ostdeutsche Erfolgsgeschichte?" Der Mitgründer Rubin Ritter legte dar, wie Zalando gegründet und aufgebaut wurde, mit welchen Schwierigkeiten das junge Unternehmen zu kämpfen hatte und wie sie diese erfolgreich überwanden. Es wirkte alles sehr positiv und unternehmerisch-nett-glorreich. Als wir uns im Publikum umschauten, sahen wir fast ausschließlich weiße, adrett gekleidete junge Männer (mit wirtschaftlichem Studienhintergrund, wie sich in zahlreichen Interaktionen herausstellte). An diesem Punkt begann ich mich zu fragen, welches primäre Klientel der Einladung zum Symposium gefolgt ist. Es schien sich doch sehr um eine eindeutig klassifizierbare Gruppe zu handeln, und die bisherigen Themen muteten stark wirtschaftsorientiert an. Ich fragte mich: für wen ist diese Konferenz? Für jene Studierenden, denen es ohnehin schon "gut" geht? Ein abschließendes Urteil wollte ich nach anderthalb besuchten Veranstaltungen natürlich noch nicht fällen, deshalb meldete ich mich mit der Frage, wie es vor einigen Jahren dazu hatte kommen können, dass Arbeitsbedingungsverletzungen bei Zalando so lange nicht aufgefallen waren und was man als junge*r Unternehmer*in denn tun könnte, um so etwas zu verhindern. Rubin Ritter beantwortete die Frage so, dass die Gründer damals nicht von allem eine Ahnung und eine externe Firma mit der Logisitk beauftragt hatten. Erst später seien ihnen die Mängel aufgefallen und dann wurden diese sofort korrigiert. Nun. Immerhin.     
Das anschließende Panel zum Thema "Intensivpatient Bildungspolitik", bei welchem ein ehemaliger Staatssekretär, ein emeritierter Lehrer und eine junge Lehrerin sprachen, gestaltete sich sehr interessant und spiegelte die klassischen Fronten wider: Der Staatssekretär (der selbst nicht unterrichtet hatte) wich in seinen Ansichten deutlich von den Lehrenden ab. Alle waren sich jedoch darüber einig, dass der Lehrermangel immer gravierender wird und dringend etwas dafür getan werden müsste. Was genau, darüber waren sie sich uneinig. Der Staatssekretär sprach sich vehement gegen Abminderungsstunden aus und schlug stattdessen vor, dass Lehrende pro Woche zwei Stunden mehr übernehmen könnten, während die Lehrenden für mehr Optionen zur Teilzeit und einer besseren Verbindung zwischen Beruf (reale Arbeitsstunden! Die liegen bei Lehrenden nämlich bei um die 56 Stunden pro Woche..) und Privatleben sowie mehr Ausbildungsplätzen und generell attraktiveren Arbeitsbedingungen. Leider, leider gab es hier keine Möglichkeit, um Fragen zu stellen oder Anmerkungen zu äußern. Mich irritierte, dass die Schule mit einem Wirtschaftssystem verglichen wurde, das möglichst effizient zu laufen hat - als würde es sich bei den Insassen (ja, das Wort habe ich bewusst so gewählt) nicht um völlig überarbeitete Menschen halten.     
Bis zu diesem Punkt wurde die Ost-West-Thematik also eher am Rande thematisiert. Das sehe ich einerseits ein, denn es geht ja auch darum, zu zeigen, dass der Standort Ostdeutschland genauso legitim ist wie jeder andere und wir uns nicht nur in die Opferrolle stellen sollen. Andererseits existieren nun einmal in vielen Bereichen deutliche Erschwernisse, die man nicht einfach ignorieren kann.     
Nach dem Panel zur Bildungspolitik fand das Recruiter-Speed-Dating statt, und leider konnte ich dort (außer ein paar Ingwer-Shots, Blöcken, Stiften und Taschen) als primäre Gesellschaftswissenschaftlerin nicht viel mitnehmen. Gut, ich studiere Theologie und Wirtschaft, aber wenn ich mich auf den historischen Teil der Theologie konzentrieren möchte, dann habe ich bei Wirtschaftsprüfungsunternehmen, Banken oder Stromanbietern nicht wirklich gute Chancen. Diese waren jedoch insbesondere auf dem Recruiter-Speed-Dating vertreten, sodass ich zwar viele Gespräche über all die Germanisten, die jetzt doch in der Buchhaltung arbeiten, führen konnte, aber real keine Angebote, die tatsächlich gut für mich wären, bekam. Das begründete sich aber, wie ich in Gesprächen mit dem Team herausfand, auch darin, dass zum Symposium eben hauptsächlich wirtschaftsorientierte Unternehmen zusagen bzw. die nötigen Ressourcen haben, um anzureisen und einen Stand anzubieten.    Der Markt der Möglichkeiten am Abend war dafür richtig schön: Die Initiative Arbeiterkind war da, die Studierenden hilft, welche als erste in ihrer Familie studieren, ApplicAid, die bei Stipendienbewerbungen mit Rat und Tat zur Seite stehen, Feelslikeerfurt und der MDR. Außerdem gab es Glühwein und Punsch. So machte ich mich nach dem ersten Konferenztag mit gut durchwachsenen Eindrücken auf den Weg nach Hause. 

Am Samstag ging es dann um 9 Uhr mit der Eröffnung des Tages los. Thomas Kralinski, Staatssekretär für Wirtschaft in Sachsen, hielt die Eröffnungsrede über Herausforderungen unserer Zeit und ging darauf ein, dass "Aufbau Ost" früher stets "Nachbau West" impliziert hatte und es Zeit sei, das zu ändern. Ostdeutsche Eliten wären weiterhin Mangelware - da hat er vollkommen recht - und auch hier müsse mehr getan werden. So weit, so gut.     
In der Keynote von Constanze Buchheim, einer Unternehmerin, ging es darum, gegen die Schwerkraft (symbolisch) anzukämpfen und sich mit seiner Eigenverantwortung im Rahmen der Möglichkeiten dafür einzusetzen, dass es einem besser geht. Konkret warb sie dafür, Standorte vom eigenen Unternehmen auch in der Region - in ihrem Fall Querfurt in Sachsen-Anhalt - aufzubauen, damit man selbst und auch andere Menschen in der Region bleiben können. Denn viele, gerade auch viele, die im Osten aufwachsen, sehen sich früher oder später gezwungen, aus ihren Dörfern und Kleinstädten wegzuziehen, weil es dort schlichtweg keine beruflichen Perspektiven für sie gibt. So geht es mir ja beispielsweise auch mit Görlitz. Und Constanze Buchheim betonte, dass sie es sehr gut kennt, die einzige aus dem Osten zu sein. Das müsse man aber auch zur Repräsentation nach außen nutzen. Viele versteck(t)en ihre ostdeutsche Identität, um nicht "negativ" aufzufallen. Denn mit der ostdeutschen Herkunft gehen weiterhin Stigmatisierung und Stereotypisierung in den Medien einher. Aber ohne Repräsentation gibt es auch keine Teilnahme an der Debatte. Gerade der Osten habe aber viel unternehmerisches Potenzial - die Menschen hier haben nämlich Transformationserfahrungen, und das in viel größerem Stil als im Westen des Landes. Sie sprach auch davon, dass wir keine formalen Führungspositionen brauchen, um etwas zu verändern - und dass wir trotzdem danach streben sollen. Viele im Osten hätten ein Problem mit dem Machtbegriff. (An dieser Stelle bekam ich Bauchschmerzen, weil es mir ja selbst auch so geht..) Und auch Selbstvermarktung würden ostdeutsch sozialisierte Menschen eher ablehnen. (Davon kann ich ein Lied singen.) Und doch war Constanze Buchheim der Meinung, dass das notwendig ist und wies darauf hin, dass die Welt nun einmal so funktioniere. Aus dieser Rede habe ich auf alle Fälle interessante Impulse zum Nachdenken mitgenommen. Es stimmt, dass mir Macht und Selbstvermarktung sehr unangenehm sind und ich sehe ein, dass das zu einem beachtlichen Teil in meiner Sozialisation begründet ist - der ostdeutschen wie der polnischen. Sicherlich hat das auch seine schlechten Seiten. Ich bin mir nur nicht sicher, inwiefern ich es für richtig halte, in die komplett andere Seite auszuschlagen. Irgendwann schreibe ich mal einen Blogbeitrag zu ostdeutscher Sozialisation und Selbstvermarktung in Verbindung mit Selbstbewusstsein.  

  
Der Workshop zu "Unconscious Bias", der anschließend stattfand, kann wohl mit Fug und Recht als einer der besten des gesamten Symposiums bezeichnet werden. Dort wurde die unbewusste Verzerrung der Wahrnehmung thematisiert. Da unser Gehirn gerne kognitive Muster bildet und in Schubladen denkt, hat das Einfluss nicht nur auf unsere Wahrnehmungen, sondern auch auf die Entscheidungen, die wir basierend darauf treffen. Wenn daraus unbewusste Diskriminierung entsteht - wie es vielfach der Fall ist - wird diese oft unterschätzt. Ziel ist es, uns ein Bewusstsein darüber zu schaffen, dass unser Gehirn in Schubladen denkt, damit wir aktiver gegensteuern können. Die Schritte, die wir dabei durchgegangen sind: Akzeptieren, identifizieren, analysieren, Quelle bestimmen, reflektieren, reduzieren. So können wir von der unbewussten in die bewusste Ebene wechseln. Ich glaube, dass ich nur selten in anderthalb Stunden so viel gelernt habe wie in diesem Workshop!    
Die anschließende Präsentation "Fachbeiträge Ostdeutschland 2033" wurde von drei Unternehmen vorgetragen, die ihre Vision für die Zukunft darstellten. Dabei wurden ostdeutsche Standorte und der Ausbau der Infrastruktur angesprochen - tatsächlich sehr interessant.     
Ein weiterer grandioser Workshop fand am Nachmittag statt: Gen Z und der Osten, durchgeführt von (K)Einheit. Die Initiative setzt sich damit auseinander, wie heute junge Ostdeutsche die Nachwirkungen der DDR-Zeit und Wende spüren. Dazu haben sie auch ein Filmprojekt durchgeführt. Im Workshop erarbeiteten wir drei Steckbriefe von Personen aus dem Osten mit den Jahrgängen 1970, 1985 und 2000. Anschließend diskutierten wir diese im Plenum und überlegten, wie wir auf genau diese Eigenschaften der Personen gekommen waren.     
Der Policy-Slam am Abend zeigte ein gelungenes Format; vier junge Menschen aus Politik und Initiativen sprachen über konkrete Handlungsmöglichkeiten im Osten.         
Nach dem Abendessen fuhren wir dann in den Club Kalif, wo der Konferenzabschluss stattfand. Dort habe ich beim Bingo sogar ein Fahrradschloss gewonnen. Ha! 

Andere Veranstaltungen, an denen ich selbst nicht teilgenommen habe, von denen ich aber sehr positive Rückmeldungen erhielt, waren die Lesung mit Dirk Oschmann zu "Der Osten - eine westdeutsche Erfindung" (natürlich), die Keynote vom Ostbeauftragten Carsten Schneider und der Workshop des Podcasts Menschen.Leben.Ost. 

Insgesamt hat mir der zweite Tag deutlich besser gefallen als der erste. Ich halte das N5-Symposium jedoch für eine gelungene Veranstaltung, die mir viele neue Impulse mitgegeben hat. Gerade der Austausch mit einigen anderen Teilnehmer*innen, die Workshops und jede Ermutigung zum Thema Osten haben mir gefallen. Für die Zukunft würde ich mir noch mehr Angebote für Geistes- und Naturwissenschaftler*innen wünschen, denn die Konferenz war wirklich sehr wirtschaftszentriert. Doch auch das beinhaltet natürlich einen wichtigen Aspekt - es braucht die Wirtschaft, um den Osten weiter voranzubringen. Es braucht aber eben nicht nur die Wirtschaft. Andere Stimmen, die wichtige Beiträge zur Gesellschaft leisten, sollten gerade auf einer solchen Konferenz nicht ungehört bleiben. Mehr aktive Beteiligung in Form von Diskussionen oder Publikumsdebatten wäre auch schön. 

Generell ist das N5-Symposium eine gute Sache und ich werde nächstes Jahr auf alle Fälle wieder teilnehmen. Es ist ein Prozess, und ich sehe darin viel Potenzial. Die Zukunft Ostdeutschlands kann nur gemeinsam gestaltet werden. 

Weronika     




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