Wenn es etwas gibt, was den Titel "Deutsche Leitkultur" ohne jegliche Negativ-Konnotationen verdient, dann sind es wohl Weihnachtsmärkte. Über die Landesgrenzen hinaus kennt man unsere Liebe für lichtergeschmückte Hütten, in denen alles von Krimskrams bis Staubfänger verkauft wird, für leicht überteuerte, nahrhafte Köstlichkeiten wie Schoko-Obst und Glühwein in einer unwiderstehlichen Kombination mit Menschenmassen, die vom unbändigen Drang gesteuert sind, heute doch noch das letzte Weihnachtsgeschenk zu finden.
Diese ehrlicherweise nicht besonders enthusiastisch klingende Beschreibung trifft in erster Linie auf solche Märkte zu, die in Großstädten angesiedelt sind und einen Großteil ihrer Einnahmen aus der Weihnachtswut von (Tages)Touristen generieren. Aber verzweifelt nicht, liebe Leserschaft! Es gibt sie noch, die Orte, die das Weihnachtsherz höher schlagen lassen und den Geist der vergangenen Weihnacht hervorrufen. Wendet Euch nach Ostdeutschland und Ihr werdet sie finden, nämlich Kleinstadt-Weihnachtsmärkte mit hohem Gemütlichkeitsfaktor, die keine Wünsche offen lassen. Heute gibt es für unser großes Eastplaining-Weihnachtsspecial dementsprechend eine Empfehlungsliste mit kleinen Weihnachtsmärkten in Ostdeutschland, die (meiner Meinung nach) wahrscheinlich stressfreier und weihnachtlicher sind als die massentauglichen Großstadt-Festivitäten von Berlin und Köln. Wenn ich hier in Belgien nach deutschen Weihnachtsmärkten gefragt werde, sage ich immer: macht euch den Aufwand, recherchiert ein bisschen und geht auf einen kleineren Weihnachtsmarkt, den eben nicht alle kennen. Da hat man mehr von dem ganzen Erlebnis und ist meist sehr viel authentischer unterwegs. Und wenn man weg will von den reichen Großstädten, wohin besser sich wenden als nach Ostdeutschland?
Wir beginnen in dem schönen Land Thüringen, der Heimat meiner Alma Mater, der Universität Jena. Man muss nicht bis nach Oberhof fahren, um winterliche Gefühle zu erleben (zumindest, wenn man nicht zu jenem Teil der Bevölkerung gehört, für die Schnee den Höhepunkt der Weihnachtsgefühle bedeutet). Thüringen ist nicht nur bekannt für die alljahrstaugliche Bratwurst, sondern auch für historische Bedeutsamkeit. Schon ein gewisser M. Luther soll beim mittelalterinspirierten Wartburg-Weihnachtsmarkt all jene Köstlichkeiten genossen haben, die die katholische Kirche damals noch als Ausschweifungen einstufte. In Zeiten des Fachkräftemangels ist es besonders nützlich, auf dem Weihnachtsmarkt sozusagen vorsorglich schon mal Kontakte zu den Handwerker*innen eines vergangenen Zeitalters zu knüpfen, die ihre Kunst dort zur Schau stellen. Dieses Jahr fand der Markt an den Adventswochenenden statt und Reisende sollten sich auf die Einforderung eines Wegzolls einstellen, um die Burg betreten zu dürfen. Wer nach der Mittelalter-Zeitreise ein wenig Abwechslung braucht und sich nicht vor einem Kulturschock scheut, der kann danach beim Bauhaus-Weihnachtsmarkt in Weimar vorbeischauen und sich dort vielleicht das eine oder andere "alternative" Weihnachtsgeschenk sichern. Sämtliche Vorsichtsmaßnahmen, die beim Genuss von moderner Kunst angebracht sind, sollten angewendet werden - Wertschätzung geht manchmal über Ästhetik. In Gera gibt es einen Märchenmarkt, bei dem die Figuren der Grimmschen Märchen in weitaus kinderfreundlicherem Format dargestellt werden, als sie im Original erscheinen. Zu guter Letzt kann man in Europas größtem Haflinger-Gestüt Meura Weihnachten aus der Perspektive des Jesuskindes erleben, nämlich in einem Stall. Strohgeruch inklusive!
Wenn man nach Weihnachtsmärkten in Brandenburg sucht, steht man vor der Mammutaufgabe, nicht in den zahlreichen von Berlin-für-die-Familie-Websiten erstellten Weihnachtsmarkt-Listen unterzugehen, mit denen Berliner Elternhäuser versuchen, den Kontakt in die Provinz zu erhalten. Vier Empfehlungen habe ich herausfiltern können und dabei sogar einen Mindestabstand zum Berliner Speckgürtel einhalten können. In Lübbenau gibt es - dieses Jahr an zwei Wochenenden im Advent - einen Spreewald-Traditionsweihnachtsmarkt mit maritinem Flair, der besonders für Leute gut geeignet sind, die gerne Bootsplanken unter ihren Füßen haben (auch wenn es unter diesen im Spreewald meist nicht besonders tief weitergeht). Den Weihnachtsmarkt des Museumsdorfes Baruther Glashütte haben die Weihnachtsmarkt-Expert*innen von der SUPERillu als "einen der schönsten im Land Brandenburg" eingestuft, damit kann man also nichts falsch machen. Den Kauf von einem weiteren Handwerksartikel als Weihnachtsgeschenk zu rechtfertigen - das macht dann auch nichts mehr. Beim Angermünder Gänsemarkt in der Uckermark kann man seine Gänsekeule im stimmungsvollen Ambiente des Geschnatters der noch lebenden Exemplare genießen - von unter dem Baum direkt auf den Teller, sozusagen, fast schon Kreislaufwirtschaft. Und auch der Cottbusser Weihnachtsmarkt der tausend Sterne ist einen Abstecher wert. Besucht die Lausitz lieber jetzt noch schnell, liebe Leute, bevor der Strukturwandel Einzug hält und die ganze Authentizität verloren geht! (Obwohl, bei näherer Betrachtung, so einen Zeitdruck gibt es da wahrscheinlich auch wieder nicht).
Wir setzen unsere Reise fort, und zwar nach Mecklenburg-Vorpommern, wo es sich als gar nicht mal so einfach erwiesen hat, Weihnachtsmärkte zu finden, die nicht Rostock, Stralsund oder (man höre und staune) Lübeck sind. In Neubrandenburg gibt es den sogenannten Weberglockenmarkt inklusive Eislaufbahn. Auch Wismar tauchte häufiger auf den Listen auf, dort trifft der Weihnachtsmann am ersten Adventswochenende in einer Kogge ein und festlich beleuchtete Schiffe feiern bei einer Rundfahrt die traditionelle Seemannsweihnacht. Insgesamt scheint die Tradition des Weihnachtsmanns im Schiff ein nordischer Archetyp zu sein, auch in Greifswald kann man seine Ankunft in einem Segelboot erleben. Ein besondere Erwähnung geht an den Weihnachtsmarkt in Rerik, und zwar allein deswegen, weil dort dieses Jahr anscheinend der lokale Shantychor gastierte, der mit dem absolut hervorragenden und Käptn'-Blaubär-würdigen Namen "Reriker Heulbojen" besticht.
Sich zurückversetzt fühlen in eine Zeit, in der "noch alles besser war", das können Besucher des Biedermeier-Weihnachtsmarkts in Werben, Sachsen-Anhalt. Eine zeitgemäße Gewandung ist natürlich angebracht, aber man kann auch als Bürger*in des 21. Jahrhunderts erscheinen und aus sicherem Abstand das sanft nostalgische Flair des Bourgeoisie-Cosplays begeisterter Historienfans genießen. Auch im Freilichtmuseum Diesdorf bei Salzwedel gibt es einen historischen Weihnachtsmarkt, der allerdings auf etwas weniger Bürgertum und etwas mehr Bauerndorf setzt und wahrscheinlich ein höheres Level an praktischer Eigenbeteiligung erfordert - wie es eben so ist auf dem Dorf. Im Herrenhaus Krevese nahe Osterburg findet man einen privat organisierten Weihnachtsmarkt mit Wohnzimmer-Flair, und das wortwörtlich, denn ein Teil des diesjährigen Konzepts war die Nutzung eines "Open-Air-Dorfwohnzimmers", einer restaurierten Scheune, die sonst als Kultur- und Begegnungszentrum dient. Und wer irgendwann genug von Menschen hat (seien wir ehrlich, bei so vielen Weihnachtsmarktbesuchen tritt diese Phase früher oder später garantiert ein), kann sich nach Möllensdorf bei Wittenberg wenden, wo ein Wald-Weihnachtsmarkt durchgeführt wird. Menschen wird man da zwar trotzdem antreffen, aber immerhin ist die Flucht vor zu viel Menschenkontakt sehr viel einfacher als in einem Stadtzentrum. Und sich beim Weihnachtsmarktbesuch zur Abwechslung mal von Bäumen Gesellschaft leisten lassen, die noch im Boden stehen.
Das Beste haben wir uns zum Schluss aufgehoben - Sachsen, das Weihnachtsland! Das ist ein Titel, der mir persönlich sehr viel besser gefällt als so manche andere bundesdeutsche Bezeichnung, die Sachsen schon abbekommen hat. Tatsächlich ist die Idee zu diesem Beitrag entstanden, als ich mit Freund*innen in Leuven herausfinden wollte, welcher der älteste Weihnachtsmarkt der Welt ist, und wir dabei feststellten, dass es doch tatsächlich der Bautzener Wenzelsmarkt ist! Daher gleich mal die erste Empfehlung, wenn Ihr die Ursprünge der Weihnachtsmarkttraditionen in das Jahr 1384 zurückverfolgen wollt. Natürlich lohnt sich auch der Schlesische Christkindelmarkt in Görlitz, auch wenn ich ihn in diesem Jahr nicht selbst mitverfolgen konnte - ich habe dort über die Jahre schon zu viel Schokoobst als Belohnung nach der Schule erworben, als dass ich den Görlitzer Weihnachtsmarkt nicht empfehlen könnte. Und es gibt sogar eine Schlittschuhbahn mit vollkommen authentischem Hinfallerlebnis! Mittelalterfeeling gibt es auf dem Historischen Weihnachtsmarkt der Festung Königsstein und die erzgebirgische Weihnachtskultur kann man in Annaberg-Buchholz erleben. Ein wirklich wertzuschätzendes Weihnachtsgeschenk ist die jährliche Spezial-Edition des Herrnhuter Sterns vom Original-Herkunftsort, und zwar wertzuschätzen allein schon deswegen, weil die Errungenschaft, tatsächlich einen abzubekommen, einem glatten Weihnachtswunder gleichkommt. Eine letzte ehrenvolle Erwähnung geht an den Wrocławer/Breslauer Weihnachtsmarkt, der zwar nicht zu Ostdeutschland gehört, aber ja dennoch zum Ostblock.
Hier in Belgien bin ich schon manchmal mit Verwirrung konfrontiert worden, wenn ich erzähle, dass die wenigsten Weihnachtsmärkte in Deutschland an den eigentlichen Feiertagen offen sind und in den allermeisten Fällen schon einige Tage vorher schließen, weil niemand an Weihnachten auf Weihnachtsmärkte geht. Aber es ist so, und deswegen sind diese Empfehlungen alle optimistisch auf die Zukunft ausgerichtet, denn diese Weihnachtsmärkte sind praktisch alle für dieses Jahr schon längst vorbei. Aber vielleicht merkt Ihr Euch diese Liste vor und erinnert Euch nächstes Jahr wieder daran, dass man nicht in die Ferne (oder in die Höhe) schweifen muss, um ein besinnliches Weihnachtsmarkterlebnis zu finden - manchmal liegen die Dinge, die man weit weg glaubt, direkt vor der eigenen, ostdeutschen, Haustür. Man muss nur unter dem Schnee nachsehen.
In diesem Sinne wünschen wir Euch ein schönes Rest-Weihnachten und hoffen, dass Ihr Eure Feiertage so verbringen konntet, wie Ihr es Euch vorgestellt habt!
Bis ins neue Jahr,
Hanna
(P.S.: Noch mal zum Thema Schnee - wir übernehmen keinerlei Verantwortung für das tatsächliche Vorhandensein von Schnee und schnee-induzierte Weihnachtsgefühle bei Eurem Weihnachtsmarktbesuch und sichern uns hiermit gegen etwaige Beschwerden über 10-Grad-Temperaturen rechtlich ab.)
Quellen und noch mehr Inspiration:
Thüringen:
https://www.thueringen-entdecken.de/w/top-weihnachtsmaerkte-thueringen
https://www.antennethueringen.de/p/Top-10-Kuschel-Weihnachtsmarkte-6fou4T2u8rchFm0htX1bKI
Brandenburg:
Mecklenburg-Vorpommern:
Sachsen-Anhalt:
https://www.mdr.de/kultur/ausflug-tipps/sachsen-anhalt-weihnachten-advent-markt-geheimtipps-106.html
Sachsen:
https://www.saechsische.de/weihnachten/acht-weihnachtsmarkt-tipps-in-sachsen-5936641.html
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