DDR in den Knochen - Generationale Prägungen des jungen Ostens

Wir haben schon einmal einen Artikel darüber geschrieben, warum die Kategorien Ost und West auch für die junge Generation relevant bleiben - zumindest für jene wie uns, die heute in den ehemaligen DDR-Bundesländern groß wurden und werden. Da ging es allerdings hauptsächlich um die Mechanismen der Benachteiligung, die nach wie vor existieren. Worüber allerdings auch nicht besonders oft gesprochen wird, sind die unterbewussten, von älteren Generationen weitergegebenen (und teilweise fast traumatischen) Erfahrungen, die in einer Diktatur gemacht wurden und sich intergenerational auch auf Jüngere auswirken können. Ich würde diesen Artikel deswegen gerne der jungen Generation Ostdeutschlands widmen und einige dieser Mechanismen identifizieren, die hier über Jahre am Werk waren und es zum Teil immer noch sind.

Der junge Osten ist genau so wenig eine homogene Masse wie junge Menschen in Westdeutschland oder an anderen Orten. Trotzdem glaube ich, dass wir als junge Ostdeutsche so einiges an Prägung von unseren Eltern, Großeltern und Familien übernommen haben, die sehr ortsgebunden sind und unsere Sozialisation entscheidend beeinflusst haben. Als ich klein war, wusste ich, wo in unserem Dorf potentielle Stasi-Kandidaten wohnten - obwohl es die Stasi zu diesem Zeitpunkt schon knapp zwanzig Jahre nicht mehr gab. Das kam mir nie seltsam oder unnormal vor, und natürlich haben sich meine Eltern nie mit mir hingesetzt und gesagt, “So mein Kind, jetzt hörst du mal zu, Hausnummer X und Y haben uns früher ausspioniert.” Aber natürlich fallen Kommentare, natürlich hört ein aufmerksames Kind (und die meisten Kinder sind ziemlich aufmerksam) bei Familienzusammenkünften das Eine oder Andere, und natürlich merkt man sich vielleicht nicht alle Namen, aber doch die andauernde Präsenz von Vertretern einer übermenschlich scheinenden und moralisch problematischen Institution in der Kollektiverinnerung einer Familie. Oder zwei Familien. Oder drei.

Das, was deine Eltern und Großeltern erlebt haben, das macht etwas mit dir. Du kannst es nicht einfach aus deiner eigenen Biografie herausschneiden, auch wenn du es vielleicht versuchst oder der Meinung bist, das Leben deiner Eltern habe keine Relevanz mehr für dich. Wenn ich mich früher mit jugendlichem Trotz über die Datenschutzobsession meines Vaters aufgeregt habe, kann ich mir die Ängste, die ihn da bewegen, heute nicht mehr so einfach wegdenken. Ja, es ist dreißig Jahre her, aber wie in anderen ostdeutsche Elternhäuser sind meine Eltern in einem Überwachungsstaat aufgewachsen. Zu denken, dass da innerlich alles aufgearbeitet und reflektiert wurde, was in der Kindheit und Jugend als Prägung mitgenommen wurde, scheint nicht ganz realistisch. Eine Art unterliegende Skepsis, die kann in die nächste Generation erhalten bleiben. Das heißt nicht gleich - und da wären wir wieder bei westdeutschen Vorurteilen gegenüber dem Osten - dass alle Ossis dem Staat nicht vertrauen. Sondern man ist kritischer gegenüber Leuten, Firmen, Institutionen, wem auch immer, die versuchen, Kontrolle auszuüben. Das kann manchmal über das Ziel hinausschießen, aber es kann auch ein gesundes Hinterfragen von als gegeben präsentierten Sachverhalten sein. Und wer aus dem Westen kommt und die Ossis im Hinblick auf diese Verhaltenstendenzen ohne viel Federlesen kritisiert oder ins Lächerliche zieht, der hat meines Erachtens nach (und Verzeihung für diesen kurzen Aussetzer in meiner Ausdrucksweise) wenig Ahnung, wovon er oder sie redet. Diktaturerfahrungen sind nicht mit dem 2+4-Vertrag gestorben und können das auch nicht so einfach, weil das, was hier erlebt wurde, in die Gene der Menschen eingegangen und zwar in verwässerter Form, aber doch prinzipiell weitergegeben worden sind.

Gerade, wenn man Eltern hat, für die es einen erheblichen Teil des eigenen Selbstverständnisses darstellt, in der DDR “dagegen” gewesen zu sein, wird man als Kind auch mit dieser Identität konfrontiert. Für diese Kinder sind politische Rechte und Demokratie nicht so selbstverständlich, wie man es mit einer Kindheit in einem vereinten Deutschland nach 1990 vielleicht erwartet hätte. Die Elternsozialisation spielt da stark mit hinein. Man bekommt mitgegeben, wie wichtig es doch ist, sich zu interessieren und die eigenen Rechte wahrnehmen zu können, aber gleichzeitig kommt der Bumerang umso heftiger wieder zurück, wenn das Gefühl entsteht, das eigene Engagement würde doch so oder so nichts bewirken. Da schlägt das Interesse dann vielleicht schneller in Frustration um als bei Menschen, die sich ihre Rechte nicht selbst erkämpfen mussten, und natürlich nimmt auch das die jüngere Generation unter Umständen mit in ihre eigenen Erwartungen an Politik hinein.

„Ich stehe auch in einer gewissen Tradition meiner Familie, ein Erbe zu verfolgen. Es ist für mich völlig klar, dass ein Mandat zu haben im Deutschen Bundestag ein Privileg ist. Dass mein Vater nie die Möglichkeit hatte, in seiner Jugend frei zu sprechen und für seine Überzeugung zu kämpfen.“, sagt Luise Amtsberg, im Jahr 2018 Mitglied des Bundestags. Emotionen, die man teilen kann, wenn man mit regimekritischen Eltern aufgewachsen ist, mit Geschichten von einem strategisch die eigene Bevölkerung belügenden System, von semi-illegalen Publikationen oder im Extremfall Volkspolizeiverhöre oder Stasi-Gefangenschaft. Ich weiß nicht, wie präsent die zweite deutsche Diktatur in den Köpfen der westdeutschen Jugend ist oder wie selbstverständlich Demokratie im Westen ist. Aber im Osten bleibt Diktaturerfahrung ein Einflussfaktor im Unterbewusstsein einer ganzen Generation.

Es sind aber nicht nur diese primär politischen Faktoren, die in den Köpfen von Menschen am Leben erhalten bleiben, die Jahre nach der Wende geboren wurden. Der Soziologe Daniel Kubiak fasst es auf interessante Art zusammen:

“Ostdeutsche und Migranten [werden] seit Jahrzehnten außerhalb des Normalen verortet. Das Normale, das sei westlich codiert und als tolerant, demokratisch und zukunftsoffen beschrieben. Dem gegenüber würden Migranten und Ostdeutsche als intolerant, antidemokratisch und vergangenheitsorientiert stigmatisiert. […] Eine Migrationserfahrung schreibt man Ostdeutschen eigentlich nicht zu. Dabei [gibt] es weitere Parallelen: Umbrüche in der eigenen Biografie, teilweise geprägt von anderer Kultur und Gesellschaftslogik. Die Migrationserfahrung Ostdeutscher [wird] unterschätzt, weil ethnische Identität hierzulande stärker gewichtet [wird] als Sozialisation.”

Ich habe vor einer Weile schon mal mit meiner Mitbewohnerin über dieses Thema gesprochen. Ich erzählte ihr von den “Anders-sein-Erfahrungen”, die man als Ostdeutsche*r macht, wenn man hauptsächlich westdeutsche Räume betritt. Es überraschte mich total, als sie darauf meinte, das klänge ähnlich wie ihre Erfahrungen. Strukturelle Benachteiligung in einer nichts Gutes verheißenden Kombination mit intergenerationalen Benachteiligungserfahrungen und von Eltern und der älteren Generation weitergegebenen Erinnerungen an ein System ohne Meinungsfreiheit und Grundrechte. Die größtenteils positive Wahrnehmung der Wende im öffentlichen (oder eher westdeutschen) Diskurs hat dafür gesorgt, dass diese Seite des Problems unter den Tisch gefallen ist. Aber die Umbrüche in ostdeutschen Biografien und Identitäten sprechen für sich. Eine Familie, die in den Westen geht und dort neu ist und lange Zeit auch neu bleiben wird. Ein Elternteil, das den Job verliert und nach Jahren harter Arbeit vor dem Nichts steht, weil auf einmal ein neues System die Regeln macht und man die Regeln dieses neuen Systems noch nicht so gut beherrscht wie die des alten. Familien, Großeltern, die erleben, wie all ihre bisherigen Sicherheiten und Prioritäten ihrer Sicherheit und Wichtigkeit beraubt werden. Und das stoppt nicht nach einer Generation, sondern überträgt sich auf die Jüngeren, genau so wie es bei anderen Migrationserfahrungen geschieht, die Menschen erleben. Werte wie Sicherheit, Stabilität, der Erhalt eines gewissen Wohlstandsniveau sind in Ostdeutschland viel tiefer verwurzelt, und ich glaube, auch das verdient ein gewisses Verständnis im gesamtdeutschen Diskurs. Ihr habt die ostdeutschen Umbruchserfahrungen nicht miterlebt, liebe Westdeutsche, also nehmt Euch doch in Eurem Urteil über die heutigen Ostdeutschen zurück, die ja so “veränderungsscheu” sind.

Sie haben tatsächliche, spürbare Auswirkungen, diese intergenerationalen Verbindungspunkte. Ich erlebe das hin und wieder, wenn ich mal wieder bei irgendwelchen Studienstiftungs-Events bin, wo sich nur Leute aus Westdeutschland finden. Man steht da, nach der eigenen physischen oder mentalen Migration in den Westen, und ist damit konfrontiert, sich erst mal ein ganz neues Selbstbewusstsein aufbauen zu müssen. Das erfordert so einiges an Energie, das könnt ihr mir glauben. Man gehört nicht mehr dazu, man ist der Außenseiter, man ist es nicht unbedingt gewöhnt, sich selbst gut zu verkaufen, im Gegensatz zu vielen der Menschen um einen herum. Dazu dann noch kleine Seitenhiebe oder scheinheilige Besorgnis über die letzten Wahlergebnisse im Osten, ohne echtes Interesse an den Zusammenhängen. Das macht etwas mit der eigenen Selbstwahrnehmung. Warum sich für dieses oder jenes Stipendium bewerben, man wird es ja so oder so nicht bekommen. Warum sich für diese oder jene Führungsposition in einer ostdeutschen Firma bewerben, die wird ja so oder so an einen der drei westdeutschen Mitbewerber*innen gehen. Wie viel Ungleichheit entsteht dadurch, dass sich ostdeutscher Nachwuchs immer noch als weniger kompetent und die eigenen Erfolgschancen als geringer ansieht? Auch diese Emotionen werden über mehrere Generationen weitergegeben, was bedeutet, dass auch wir jungen Ostdeutschen heute uns mit ihnen herumschlagen dürfen.

Was ist in Deutschland Geschichte? „Es gibt eine Norm, etwas, was als normal angesehen wird. Und alles, was normal ist, wird halt nicht gesehen, es ist nicht sichtbar. Und zumindest in dem Kontext Ost und West, ist das westdeutsch. Westdeutsch ist deutsch. Deutsche Geschichte in der Schule ist westdeutsche Geschichte. Und DDR-Geschichte ist DDR-Geschichte. Aber DDR-Geschichte ist nicht deutsche Geschichte.“, sagen Daniel Kubiak und Naika Foroutan. Am 12. Dezember 2023 veröffentlicht der Jugendkanal “maedelsabende” des öffentlich-rechtlichen Rundfunks einen Instagram-Post mit Jahreszahlen, die aussagen sollten, ab wann Frauen in Deutschland was machen durften. Diese Jahreszahlen werden mit einer atemberaubenden Nonchalance als absolut dargestellt. So war es und nicht anders. Es wird nicht erwähnt, nicht mal in der Beschreibung, dass sie sich auf die Bundesrepublik beziehen (!), da wird angenommen, dass das Publikum das so oder so voraussetzt. Ich musste bis in die Kommentare gehen, um - allerdings erst als Antwort auf eine kritische Frage! - ein relativ lustloses Eingeständnis zu bekommen, man hätte ja noch mehr darauf eingehen können, dass es in der DDR anders war. 13 Wörter, im Gegensatz zu anderen kritischen Fragen, da gab’s 50 bis 60 Wörter als Antwort. Diesen Post hat niemand aus dem Osten verfasst, da bin ich mir relativ sicher. Geschichte ist BRD-Geschichte, und alles, was da nicht reinfällt, wird als so unwichtig wahrgenommen, dass man es nicht mal mit einer Erwähnung würdigt. Die Geschichte von fünf Bundesländern wird hier in den Boden gestampft, und damit auch die Lebenserfahrungen von Familien. Meine Omas haben nicht erst 1977 angefangen zu arbeiten. Junge Ostdeutsche heute müssen schon auf die Suche gehen, um die normalen, alltäglichen Lebenserfahrungen ihrer Eltern und Familien im öffentlichen Diskurs wiederzufinden. Wie ist das dann erst mit den unterschwelligen, unbewussten Ängsten und Negativprägungen, die nach wie vor präsent sind? Wer spricht darüber? Wo findet man Leute, mit denen man Perspektiven austauschen kann? Das Nachwuchs-Ostdeutschland wird auch damit allein gelassen.

Das, was wir als junger Osten mit diesen weitergegebenen Erfahrungen machen können, ist, sie für uns selbst aufzuarbeiten und eine Anerkennung auch unserer Erfahrungen zu erwarten. Erst, wenn wir die Vergangenheit (auch unserer Familie) kennen, dann können wir Distanz wahren von dem, was früher war, und versuchen, etwaige Selbstzweifel zu überwinden. Wir sind keine Bürger*innen zweiter Klasse, sondern wir haben genau so wie alle anderen das Recht, für uns selbst, unsere Identitäten und unsere Biografien einzustehen. Fordert es Euch ein, auch von dem Westdeutschland, was Euch vielleicht einschüchtert. Und auch für den jungen Nachwuchs-Westen gilt: Nehmt nicht Eure eigenen Erfahrungen, Euer Aufwachsen, Eure Sozialisation als Allgemeingültigkeit hin. Es ist an uns, an der jungen Generation, aus einer geteilten Vergangenheit in eine wirklich gemeinsam gestaltete Zukunft zu gehen.

Hanna 

Kommentare

  1. Ich frage mich allen Ernstes, weshalb der § 1677 BGB, der DDR- gemäß, im Völkerrecht gebrochen, "in seiner NUTZ-Nießung öffenlich NICHT dargelegt wird. - Ehedem (MfV) "Ministerium für Volksbildung" und (MdI) Ministerium des Inneren; sprich "Staatssicherheit," hatten Maßnahme -Vorschläge ausgeküngelt, nach denen Kindern von republik-füchtigen Eltern das Sorge -recht entzogen werden konnte, um deren Kinder in der DDR ein-zu-behalten, wie es auch mir geschehen ist. // Ich weiß und akzeptiere seine NICHT-REHABILITIERBARKEIT, doch wünsche ich mir sehr, dass meine Darlegung auch in Ihrer GÄNZE von den AUF-ARBEITUNGS-BEHÖRDLICHKEITEN in ihrer RICHTIGKEIT bestätigt werden.

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