Warum das Mini-Europa kein Mini-Europa ist

(Ein kleiner Vorab-Hinweis: Die Begriffe Osten und Westen stehen in diesem Text sowohl für den ost- und westdeutschen Raum als auch für die generellen Sphären Ost- und Westeuropa, die sich heute weiterhin in vielen Bereichen unterscheiden und die in Teilen gegensätzliche Sozialisationsräume ausmachen.)

Im Mini-Europa in Brüssel steht ein nachgebautes Fragment der Berliner Mauer. Abgesehen davon findet man dort allerdings, welch Wunder, vor allem Bauwerke aus westdeutschen Bundesländern: Als einziges ostdeutsches Wahrzeichen gibt es den Jahrtausendturm Magdeburg, repräsentativ für die Bundesgartenschau. Um es mal so zu sagen: Überrascht war ich davon nicht. Das Argument, es wurden einfach die architektonischen Meisterwerke mit dem höchsten Wiedererkennungswert für die Ausstellung ausgesucht, wirkt auch etwas kraftlos auf mich - es kann mir niemand erklären, dass das Soester Osthofentor in Nordrhein-Westfalen mehr Anziehungskraft hat als beispielsweise die Wartburg, die Potsdamer Schlösser oder die Frauenkirche in Dresden. Und diese Unausgeglichenheit erstreckt sich auch nicht nur auf Deutschland. England und Frankreich sind im Mini-Europa mit 10 bzw. 11 Gebäuden vertreten, die verhältnismäßig kleinen Länder Belgien und die Niederlande schaffen es beide ebenfalls auf 10. Die osteuropäischen Länder führt Polen an - mit 3 Bauwerken. Damit kommt das Land noch relativ gut weg - die anderen osteuropäischen Länder kommen auf je ein Gebäude. Es scheint fast so, als hätte es zu viele EU-Beitritte und zu wenig Platz im Mini-Europa gegeben.

Deutschland ist Westdeutschland und Europa ist Westeuropa. Es bleibt ein nach wie vor anhaltendes Phänomen, dass diese Begriffe in den Köpfen vieler Menschen synonym scheinen. Und worin manifestiert sich das? In Aussagen wie “Ach, Ostdeutschland, das Thema interessiert mich ja überhaupt nicht.” Manchmal noch kombiniert mit der Bekundung, dass man persönlich osteuropäische Länder einfach als Reiseziele nicht reizvoll findet. Als illustrierendes Beispiel schaue man sich einige der zahllosen Deutschland- oder Europa-Bucket-Lists an, die online zu finden sind. Da wiederholt sich ein Muster, und es ist nicht schwer zu erraten, was das für ein Muster ist. In den letzten Jahren hat sich da ein bisschen was getan, vor allem seitdem Menschen mehr und mehr auf der Suche nach weniger überlaufenen Reisezielen sind. Aber nach wie vor gibt es da eine gewisse Diskrepanz. Ich habe aus irgendeinem Grund noch nie jemanden getroffen, der mir gesagt hat, “Ach, ich fahre einfach nicht nach Westdeutschland/Westeuropa, das ist einfach für mich kein interessantes Reiseziel.” Warum ist das wohl so?

Menschen haben keine Pflicht, sich für bestimmte Dinge, Orte oder Gesellschaften zu interessieren. Sie haben auch keine Pflicht, an bestimmte Orte zu fahren, wenn sie das nicht wollen - wofür haben wir denn Reisefreiheit. Aber ich denke schon, dass es sich manchmal lohnen würde, darüber nachzudenken, warum das Ausschlusskriterium immer der Osten ist. Ob es jetzt um Reiseziele, Geschichtsinteresse oder einfach nur das generelle Bewusstsein für die Region geht - es ist immer Ostdeutschland oder Osteuropa, für die sich nicht interessiert wird. Wenn mir das erzählt wird, wird dieses mangelnde Interesse dann meistens mit persönlichem Geschmack begründet - “es reizt mich einfach nicht.” Aber ich bin der Meinung: Wer westdeutsch oder westeuropäisch sozialisiert ist, würde nicht schlecht daran tun, sich folgende Frage mal zu stellen - was hat eigentlich dazu beigetragen, dass ich mich so westlich orientiere?

Um dem oft als Erstes angebrachten (und ziemlich abgeschmackten, wie ich finde) Argument hier gleich mal die Luft zu nehmen - es liegt nicht daran, dass es im Osten nichts gibt, wofür es sich lohnt, sich zu interessieren. Das gilt für Deutschland, aber auch für ganz Europa. Es ist auch egal, was man will, ob es jetzt Kultur oder Natur oder Strandurlaub ist: Man findet für alle diese Urlaubsgestaltungsvorlieben Orte im Osten, an denen sie sich nach Lust und Laune ausleben lassen. Und auch außerhalb von Urlaubsplänen lohnt sich der Blick nach Osten: Die Geschichte Ostdeutschlands und Osteuropas ist genauso abwechslungsreich und faszinierend wie die anderer Orte in der Welt. Sachsen-Anhalt beispielsweise ist ein super Ort für Leute, die sich für Prähistorik interessieren. Prag ist wahrscheinlich eine der faszinierendsten Städte Europas und kann zurückblicken auf eine multikulturelle, literarisch bewegte und historisch bedeutsame Vergangenheit. Ungarisch ist eine der wenigen nicht-indogermanischen Sprachen in Europa. Wer sich in irgendeiner Art und Weise für den zweiten Weltkrieg interessiert, sollte polnische Geschichte unter keinen Umständen außen vor lassen.

Was ist es dann? Wenn es diese Vielfalt im Osten genau wie im Westen gibt, dann muss mangelndes Interesse ja daran liegen, dass man sich dieser Vielfalt überhaupt nicht bewusst ist. In der Schule war osteuropäische Geschichte vielleicht ein Nebensatz. Filme, die man schaut, werden in England produziert, in den USA - ich kann mir kaum vorstellen, dass in westdeutschen und -europäischen Schulen oder Wohnzimmern alte russische Märchen geschaut werden. Man ist vielleicht aufgewachsen mit einer Vorstellung des Ostens, die grau ist, langweilig, gibt ja auch nur hässliche Architektur da. Wenn man westsozialisiert ist und an deutsche Geschichte denkt, denkt man vielleicht an Adenauer, Schmidt und Kohl, Wirtschaftswunder und RAF, und, ach ja, Mauerfall (während es für mich immer heißt, Schmidt und Kohl und Honecker, Wirtschaftswunder und Volksaufstand, Prager Botschaft und Montagsdemos und Mauerfall und Treuhand.) Die westeuropäische und US-amerikanische Geschichte und Gesellschaft erkennt man wieder in Filmen, in Musik, in netflixproduzierten Serien. Ich behaupte jetzt einfach mal (und spreche da auch von mir selber), dass die Durchschnittsbevölkerung sehr viel weniger über die russische Geschichte und Gesellschaft weiß. Was mir manchmal absurd vorkommt, wenn man bedenkt, dass sowohl ein gewisses Verständnis der USA als auch ein gewisses Verständnis Russlands für ein generelles Verständnis der heutigen Welt essentiell scheinen.

Liebe westlich sozialisierten Menschen: Wenn ihr der Meinung seid, ihr würdet Euch für den Osten einfach nicht interessieren - stellt Euch doch mal selbst in Frage und überlegt, ob das nicht vielleicht in erster Linie daran liegen könnte, dass Ihr einfach keinerlei Berührungspunkte mit dem Osten hattet. Weil ihr in einer Gesellschaft aufgewachsen seid, die sich für den Osten ebenfalls nicht interessiert. Weil Ihr graue Wohnblöcke im Kopf habt, wenn Ihr an den Osten denkt. Weil Ihr zwanzig Serien oder Filme nennen könntet, die sich mit westeuropäischer oder amerikanischer Geschichte befassen, aber nur zwei, die in einem beliebigen osteuropäischen Land spielen. Weil Ihr auf das Mini-Europa in Brüssel schauen könnt und Euch nicht so wie ich über die ungleiche Verteilung der Ausstellungsstücke wundert. Wenn Ihr beginnt, darüber nachzudenken, dann ergibt Euer mangelndes Interesse am Osten vielleicht auf einmal einen ganz anderen Sinn und Ihr merkt - es ist vielleicht nicht Euer persönlicher Geschmack, der sich darin zeigt, sondern die nach wie vor bestehende Ungleichheit zwischen Osten und Westen in Deutschland und Europa sowie eine westliche Gesellschaft, die einfach nicht nach Osten blickt. Und wenn Ihr diese Feststellung getroffen habt, dann könnt Ihr ja mal austesten, ob Ihr Euch nicht vielleicht doch für den Osten begeistern könnt, wenn Ihr die bewusste Entscheidung trefft, Euch mal damit auseinanderzusetzen.

Leider ist die westliche gesellschaftliche Apathie gegenüber dem Osten wahrscheinlich nur eine Teilerklärung für fehlendes Individualinteresse. Die andere Hälfte der Erklärung geht wahrscheinlich mehr in die Richtung von “Mit dem Auto können wir nicht nach Osteuropa, das wird doch am ersten Tag geklaut!”. Besagte andere Hälfte nährt sich von Vorurteilen und Stereotypen über die Menschen im Osten, die sich hartnäckig halten. Ob es jetzt die ostdeutschen Nazis oder die polnischen Kriminellen sind - im Westen gibt es eine bestimmte Vorstellung darüber, wie Menschen im Osten sind, und es gibt eine ganze Reihe an Gründen, warum man mit ihnen gar nicht erst zu kommunizieren braucht. Der Westen wird als sicherer wahrgenommen, als komfortabler, als bequemer, und das in jeglicher Hinsicht.

Wer auf diese Stereotypen hineinfällt, macht zwei Fehler: Erstens fällt man auf Stereotypen hinein. Stereotypen, die nicht der Wahrheit entsprechen und die einen im schlechtesten Fall von einem tollen Urlaub abhalten. Zweitens sind solche Stereotypen auch eine sehr bequeme Ausrede, um sicherzustellen, dass man sich nur mit Leuten umgibt, die einem selbst sehr ähnlich sind. So nach dem Motto: “Dort ist alles so anders, dass ich mich da sowieso nicht wohlfühlen würde.” Auch ein selbsterklärter Mangel an Interesse fällt im Übrigen in die Kategorie solcher Ausreden: “Ich interessiere mich einfach persönlich nicht für den Osten” - das kommt natürlich sehr gelegen, wenn man es vermeiden will, Menschen oder Gesellschaften kennenzulernen, die etwas anders sind als man selbst.

Also, der Auftrag an alle: Denkt darüber nach, wo Eure Interessen herkommen. Bevor Ihr den Osten als uninteressant abtut, fragt Euch, wo Euer Desinteresse herkommt und ob es wirklich nur persönlicher Geschmack ist, der Euch da beeinflusst. Ich möchte niemanden verurteilen, der oder die bewusst den Blick vom Osten abwendet. Es geht auch nicht darum, Leuten ein schlechtes Gewissen machen zu wollen, weil sie sich mehr für die USA interessieren als für Russland oder noch nie in einem osteuropäischen Land waren. Da würde ich auch mit ziemlich großen Steinen auf mein eigenes Glashaus werfen - immerhin studiere ich Anglistik, mache öfter Urlaub in west- als in osteuropäischen Ländern und schaue definitiv mehr Dokus über die Geschichte der USA als über die Geschichte Russlands. Aber als ostdeutsch sozialisierte Person habe ich auch ein gewisses Bewusstsein dafür, dass das eigentlich ziemlich unausgeglichen ist. Alles, was ich mit diesem Beitrag erzeugen will, ist ein derartiges Bewusstsein sowie Verständnis dafür, dass diese Diskrepanzen irgendwo herkommen. Denn da, wo ich es treffe, macht mich dieses Desinteresse gegenüber dem Osten immer etwas traurig. Erstens, weil ich weiß, dass man einfach viel verpasst, wenn man diesen Gesellschaftskreis bewusst vom eigenen Radar verbannt. Und zweitens, weil es mich persönlich trifft - innerlich stelle ich mir dann immer die Frage: Haben wir nichts, was es dir wert sein könnte, dich für uns zu interessieren? Gehören wir nicht auch dazu zu deiner Welt, zu deinem Deutschland und deinem Europa?

Hanna

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