Die Oschmann-Obsession - und was wir daraus lernen können

"In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen." (Brecht, zitiert in Oschmann 2023, S. 44) 

"[Es gibt im Osten] keine vom Westen unabhängigen symmetrischen Selbstzuschreibungsdiskurse [...]." (Oschmann 2023, S. 79)



Hör auf, über Spaltung zu sprechen, das spaltet die Gesellschaft doch nur noch mehr! 

Solche Reaktionen bekam Dirk Oschmann zu hören, nachdem er im Jahr 2023 sein Buch "Der Osten - Eine westdeutsche Erfindung" veröffentlichte. Das passiert nun mal, wenn man es in Zeiten großer gesellschaftlicher Verwerfungen wagt, Konflikte anzusprechen, zumindest scheinen das diese Reaktionen zu suggerieren. Wir haben uns mit einer Rezension zu Dirk Oschmanns Buch ganz schön Zeit gelassen, vor allem, wenn man bedenkt, dass wir in den Anfangstagen unseres Blogs sogar eine seiner Lesungen in Jena besucht haben. Das Buch stand wochenlang auf den Bestsellerlisten, der Name Oschmann war in aller Munde - nun, zumindest in denen von ZEIT-Leserinnen oder Buchmesse-Besuchern. Aber dazu später mehr. Ich habe das Buch nun endlich auch auf meiner Leseliste abhaken können und besitze jetzt ein Exemplar, in dem so einige Sätze unterstrichen und so einige Seitenecken umgeknickt sind. Es sind mir viele Sachen durch den Kopf gegangen beim Lesen, das ist unschwer erkennbar. Trotz allem, und gleich zu Anfang - ich habe nicht viel Neues erfahren, oder nein, wohl eher: es hat mich nicht wirklich viel überrascht beim Lesen. Viele der Beispiele, die Oschmann anbrachte, waren mir neu, aber das große Ganze seiner Argumentation kam mir bekannt vor, denn ich rede mich ja selbst seit Jahren regelmäßig um Kopf und Kragen, wenn es um das Thema Ostdeutschland geht. Woraus ich allerdings wirklich noch etwas lernen durfte, das war nicht das Buch selbst, sondern mein Ausflug in die Welt der Oschmann-Rezensionen, die seit Veröffentlichung des Buches im diffusen gesellschaftlichen Diskursraum existiert. Ich schaute unter anderem in die Review-Sektion des Online-Leseportals Goodreads und was ich dort las, brachte mir noch einmal einiges bei über die Bereitschaft unserer  Gesellschaft, sich mit Ungerechtigkeit und Ungleichheit abzufinden, wenn es um Ostdeutschland geht. Das hier wird dementsprechend eine doppelte Rezension: ein Review des Buches selbst und dazu noch eine Reaktion auf die Reaktion, eine kleine Analyse westdeutscher Scheinheiligkeit.

Zuallererst meine grobe Gesamtmeinung zum berüchtigten Oschmann-Buch: ich fand es lesenswert. Dazu muss allerdings auch gesagt werden, dass ich das Buch aus einer Position heraus gelesen habe, die das geradezu einfordert. Dirk Oschmann ist Literaturwissenschaftler, er hat in Jena Anglistik studiert und hat es gelernt, auf eine ähnliche Weise über Dinge nachzudenken, wie ich es tue. Es ist ein Buch von einem Literaturwissenschaftler, das ist eindeutig. Nicht nur aufgrund des Kapitels, welches ostdeutscher Literatur gewidmet ist, sondern auch aufgrund der Art, wie Oschmann argumentiert und welche Schlüsse er über Gesellschaft, Politik und Kunst zieht. Das ist nicht negativ und nicht positiv, aber es erklärt zum Teil, warum ich damit etwas anfangen konnte und andere Leser*innen vielleicht nicht so sehr. Viele meiner Erfahrungen decken sich mit denen Oschmanns, was beeindruckend ist (und einen weiteren Grund für die Relevanz seines Buches liefert), wenn man bedenkt, dass er vor Jahrzehnten studiert hat. Das Fehlen an Vorbildern für junge ostdeutsche Menschen, die sich für die Geisteswissenschaften interessieren (S. 28), die nach wie vor durch die Bank weg westdeutsch besetzten Universitätsriegen (S. 65/66), die schwierigen Karrierechancen, die Tatsache, dass Oschmann in den westdeutschen Perspektiven der großen Medienhäuser in Deutschland ein Problem erkennt (S. 105). Das deckt sich eins zu eins mit meinen Erfahrungen, darüber habe ich auch schon geschrieben und diskutiert, aber natürlich ist es schön, bestätigt zu bekommen, dass man nicht die Einzige ist, und dass es nicht unbedingt nur an einem selbst liegt, sondern dass es irgendwo Fehler im System gibt.

Das Ausmaß der noch immer bestehenden wirtschaftlichen und diskursiven Ungleichheit zwischen Ost und West war mir zwar vage bekannt, aber noch mal schwarz auf weiß zu lesen, wie wenig chancengleich man letzten Endes wirklich ist, hat mich dann doch schockiert. Oschmann schreibt allerdings nicht nur über ökonomische Daten, sondern widmet auch der westdeutsch geprägten Medienwelt einiges an Druckertinte, die den Osten aus einer bestimmten, stereotypen Perspektive heraus neu erfindet. Er schreibt außerdem über Sachsen als die Inkarnation des "Problemkinds Osten", über das Abtrainieren ostdeutscher bzw. sächsischer Akzente, über ostdeutsche Kunst, der keine Interpretationsfreiheit zugestanden wird sowie über die Reaktionen von westdeutschen Oberschichtlern auf Oschmanns ursprünglichen FAZ-Artikel, auf den das Buch zurückgeht. Er schreibt nicht zuletzt über die Selbstdefinition des Westens, der sich als weltoffene, europaorientierte, bildungsschätzende Gesellschaftsgruppe und den Osten als rückständige, nationalistische und bildungsferne Zone inszeniert. Das hat unter anderem zu einer kritischen Selbstreflektion meinerseits geführt: warum bin ich eigentlich so interkulturell interessiert, warum kann ich mich beispielsweise für die europäische Idee begeistern? Will ich damit unterschwellig auch einer Fremdzuschreibung entgehen? Will ich die westdeutsche Weltoffenheitsidentität für mich selbst besetzen? Möglich wäre es. Genauso möglich wäre es natürlich, dass es am Ende doch ich selbst bin, die für diese Interessen verantwortlich ist, und - sehet und staunet - damit meine Erziehung und mein Aufwachsen in einer kleinen ostdeutschen Grenzstadt, das mir immer vermittelt hat, wie wichtig Menschenrechte, Zusammenarbeit und Perspektivwechsel sind.

Schließlich und letztlich sind es auch vor allem die oben genannten Stereotype, die einen großen Teil von Oschmanns Kritik ausmachen. Laut Oschmann repräsentiert der Osten für den Westen alles, was er aus seinem eigenen Selbstbild herausgelöscht hat. Ich fand das sehr interessant, da ich letztens erst in der Vorbereitung auf einen für eine Masterbewerbung zu schreibenden Essay einen Artikel aus dem Wissenschaftsmagazin Public culture gelesen habe, der sage und schreibe bereits im Jahr 2001  veröffentlicht wurde. Darin ging es um das Konzept der "Ostalgie". Der Autor Dominic Boyer interpretiert hier deutsche Identität als einen andauernden Versuch, einen Umgang mit den "dunklen", problematischen Seiten des Deutsch-Seins zu finden - Nationalismus, Ethnozentrismus und Nazi-Vergangenheit. Er schreibt dazu, dass das in den Zeiten der Teilung relativ einfach war: Der problematische deutsche Autoritarismus wurde vom jeweils anderen deutsche Staat repräsentiert, ob in Form eines "imperialistischen Auslands" oder eines "kommunistischen Unrechtsstaats". Nach 1989 verschob sich dies aufgrund der medialen und politischen Diskursmacht des Westens hin zu einer Interpretation des Ostens als  dem rückwärtsgewandten, ostalgischen, diktaturvermissenden Teil der deutschen Bevölkerung, der es dem Westen erlaubte, sich selbst als vorwärtsorientiert und demokratiefreudig zu sehen - Stichwort Goodbye, Lenin. Diese Einschätzung kommt, wie bereits gesagt, bereits aus dem Jahr 2001. Sie lässt die gegenwärtige Debatte über das undemokratische Ostdeutschland noch einmal in einem ganz anderen Licht erscheinen und deckt sich auch mit vielen Argumenten Oschmanns, was die Stereotypisierung des Ostens in den westdeutschen Medien und dem westdeutschen Kollektivgedächtnis angeht.

Das Buch ist emotional, spricht viele verschiedene Themen an und versucht, sie in ein kohärentes Ganzes zu bringen. Das klappt nicht immer ganz, denn es ist durchaus eine schriftstellerische Herausforderung, eine Streitschrift mit einer klaren und deutlichen Struktur zu versehen. Besonders gegen Ende wird es etwas zusammengewürfelt, was den Lesefluss nicht unbedingt stört, aber dazu beiträgt, dass es schwieriger wird, die essentiellen Argumente herauszukristallisieren. Es ist auch ein biographisches Buch und kann dementsprechend nur begrenzt als Sachbuch eingeordnet werden, was ich aber nicht unbedingt als Problem sehe, denn Ost und West ist in Deutschland ganz direkt mit Biographie und persönlicher Erfahrung verknüpft. Mir persönlich fehlte manchmal etwas die Trennschärfe zwischen dem Osten als Westkonstrukt und dem Osten als real existierendem gesellschaftlichen Raum, da Oschmann nicht unbedingt klar dazwischen unterscheidet. Zudem sind manche Zuschreibungen möglicherweise nicht mehr so kategorial, wie Oschmann behauptet. Es wäre durchaus mal eine Untersuchung wert, wie schnell und zielsicher sich beispielsweise die jüngere Generation heutzutage einer dieser beiden Himmelsrichtungen in Deutschland zuordnet, denn ich glaube, so eindeutig, wie Dirk Oschmann die Ost- und Westidentität beschreibt (S. 80), ist es mittlerweile nicht mehr ganz. Aber das wäre eine Aufgabe für die Soziologie. Und, zu guter Letzt - natürlich hätte ich mich über mehr Differenzierung gefreut, über etwas mehr Optimismus, über einen Fokus auf Gemeinsamkeit und Lösungsansätze. Aber ich kann nachvollziehen, aus welchen Gründen Dirk Oschmann sich dagegen entschieden hat. Und ich bezweifle tatsächlich, dass das Buch - vor allem im Westen - je so bekannt geworden wäre, wenn es weniger Wut und mehr Beschwichtigung enthalten hätte.

Die andere Seite der Medaille, wenn ein Literaturprofessor ein populärpublikumorientiertes Buch schreibt, ist natürlich die Frage der Zugänglichkeit. Wer liest das Oschmann-Buch? Für wen ist es geschrieben? Oschmann würde wahrscheinlich sagen, "für den Westen". Ich würde noch mal einen drauf setzen und sagen, "für ein westdeutsches Bildungsbürgertum, das Zeit und Muße hat, sich mit Dingen wie Deutungshoheiten, Identitätszuschreibungen und "personifizierenden Kollektivsprechweisen" (S. 19) auseinanderzusetzen." Dieses Bildungsbürgertum gibt es natürlich auch im Osten, und man sollte nicht unterschlagen, dass viele Menschen im Osten das Buch gelesen haben und aus der Lektüre gegangen sind mit dem Gefühl "Endlich spricht es mal jemand an." Die Befürchtung, die ich allerdings habe, ist, dass es immer noch zu viele Menschen gibt, für die dieses Buch Ausdruck einer überheblichen Elitendebatte ist, die über Köpfe hinweg geführt wird. Dafür kann Dirk Oschmann nichts und hat es auch sicher nicht beabsichtigt, aber es bleibt ein gesellschaftliches Problem. Im Publikum in Jena saßen ein paar Menschen, die ihren Diskussionsbeiträgen nach zu urteilen eher auf einen DDR-Relativierungsbuch gehofft hatten als auf eine breitgefächerte Analyse der Ost-West-Problematik im heutigen Deutschland. Das zeigt einerseits, dass diese Menschen mit ihren Lebenserfahrungen in der DDR vielleicht jene Abwertungen in der Bundesrepublik erfahren mussten, die Oschmann als eines seiner Kernargumente beschreibt. Es zeigt aber auch, dass sein Buch nicht unbedingt als das wahrgenommen wird, als was es (vermutlich) intendiert war.

Die Differenz zwischen Oschmanns Aussagen und ihrer Wahrnehmung ist aber auch eines der essentiellen Probleme, die ich in den Reaktionen auf das Buch sehe. Wir schließen mit dem eigentlichen Buch jetzt erst mal ab und kommen zu genau diesen Reaktionen, zu denen ich fast noch mehr Gedanken und Kommentare habe als zum inhaltlichen Teil. Das Erste, was schon einmal einen kleinen Einblick bietet in die Art, wie die Debatte verzerrt wird, um nicht über das Eigentliche sprechen zu müssen, sind die Menschen, die sich empören über Oschmanns Polemik, über seine fehlende Differenzierung, über seine Position als privilegierter Universitätsprofessor, der sich über Diskriminierung beschwert. Ja, das Buch ist polemisch, ja, es ist wütend, ja, es ist absolut undifferenziert. Aber als Literaturstudentin sage ich dazu: Lasst ihn doch machen. Er begründet mehrfach, warum er sich entschieden hat, so einseitig und emotional zu schreiben, er macht ganz klar, wo seine Motivation liegt: Die Differenzierung gibt es schon, und es interessiert sich augenscheinlich niemand für sie. Die Studien liegen vor, die Daten, die vielschichtigen Perspektiven - aber sie erfahren im westdeutsch geprägten Diskurs zu wenig Aufmerksamkeit. Natürlich kann man darüber diskutieren, ob Polemik als Hilfsmittel da zielführend ist. Aber ich finde es schon bemerkenswert, wie ihm schleunigst und ohne zu zögern das Jammer-Ossi-Klischee attributiert wurde, wie man sich über die Art und Weise aufregt, wie er Dinge sagt, ohne darüber zu sprechen, was er denn eigentlich sagt. So wenig konstruktiv Oschmanns Kritik sein mag - das Publikum demonstriert dadurch ähnlich wenig Bereitschaft, konstruktiv zu handeln. Ist es zu viel Selbstmitleid? An einigen Stellen ja, durchaus, die Dinge liegen nie so eindeutig binär, wie sie erzählt werden. Alle Ostdeutschen, die sich von Oschmann in eine Opferrolle gedrängt fühlen, die sie nicht haben wollten, und die ihre eigenen Leistungen in seiner Darstellung verkannt sehen, haben das Recht, das nicht gerade toll zu finden. Aber auch hier gibt es etwas ziemlich Wichtiges zu beachten: Es ist etwas fundamental anderes, wenn die ostdeutsche Leserschaft Oschmanns Werk als Wutschrift eines Jammer-Ossis bezeichnet, als wenn es ein*e Westdeutsche*r tut. Dieses Prinzip müsste mittlerweile bekannt sein. Aber vielleicht ist es auch einfach entspannter, dem unbequemen Ossi Spaltung vorzuwerfen, nicht, dass sonst noch eine ernsthafte und schmerzhafte Selbsteinsicht eintritt.

Ähnlich gestaltet es sich mit den Reaktionen, die Oschmann sein Professoren-Beamten-Privileg zum Vorwurf machen. Dazu muss ich sagen: Ich habe erstens an keiner Stelle den Eindruck bekommen, dass Oschmann sich seines eigenen Privilegs nicht bewusst wäre. Er geht von Anfang an offen und ehrlich damit um und scheint bemüht, der Leserschaft klarzumachen, aus welcher Position heraus er spricht. Zweitens schließt Privileg in einer Richtung Diskriminierungserfahrung in anderer Richtung nicht aus. Drittens: Warum soll es ein Ding der Unmöglichkeit sein, dass jemand mit privilegierten Lebenschancen im Vergleich zu seinen Zeitgenossen wütend darüber ist, dass diese Lebenschancen ein Privileg waren? Warum soll es ihn unehrlich erscheinen lassen, wenn er der Meinung ist, dass Ostdeutsche systematisch benachteiligt seien, und etwas dagegen tun möchte? Aber wieder gilt: Es fällt ja gar nicht schwer, dem Ossi die Kritikfähigkeit abzusprechen, sobald man ein geeignetes Argument gefunden hat, was ihn als unglaubwürdig dastehen lässt.

Kommen wir zum dritten und größten Aspekt, der mir beim Lesen von Reviews und Meinungen aufgefallen ist: Oschmanns Umgang mit Rechtsextremismus in Ostdeutschland sowie seine Aussagen zu der Diskriminierung ostdeutscher Männer in den Nachwendejahren. Er vergesse sämtliche andere marginalisierte Gruppen in der Gesellschaft, schreiben die Menschen über sein Buch, und zudem mache er den Westen für den ostdeutschen Rechtsextremismus verantwortlich, spiele er das Thema herunter,  betreibe er sogenannten Whataboutism, also das gezielte Ablenken von einem Problem durch den Fokus auf ein anderes. Seine Argumentation (laut der Kritik): "Rechtsextremismus im Osten, das ist ja gut und schön, aber what about Rechtsextremismus im Westen?"

Liebe westdeutsche Kritiker*innen, lasst mich Euch meine Analyse dieses Arguments erläutern. Whataboutism, das ist ein zweischneidiges Schwert. Man sollte immer vorsichtig sein, wenn man es erhebt, denn es könnte auf einmal gegen einen selbst gewandt sein. Was ist es denn eigentlich, was Ihr da sagt? "Die Altnazis in westdeutschen Elitepositionen, die westdeutsche AfD-Gründung, Björn Höcke, der Wessi, das ist ja gut und schön, aber what about Sachsen?" Wir sprechen jetzt aber nicht von den ostdeutschen Wahlergebnissen, das ist gerade nicht das Thema. Wir sprechen jetzt gerade über den westdeutschen Beitrag zu diesen Wahlergebnissen. Darum geht es Dirk Oschmann, und er benennt die ostdeutsche Rechte an mehreren Stellen als ausdrückliches Problem, aber es ist in diesem Moment, in diesem Buch, nicht sein Thema. Und das muss es auch nicht sein. Oschmann hat es gewagt, als Ostdeutscher ein Buch zu schreiben, welches sich nicht mit Rechtsextremismus im Osten befasst. Wie kann er es wagen!, ruft da der Westen schon aus Reflex. Wie kann er es wagen, rechte Politik, fehlende Aufarbeitung und hochproblematische Äußerungen im Westen zu verorten! Wie kann er es wagen, darauf aufmerksam zu machen, dass der Westen nach 1989 gerne mal Nazi-Vokabular verwendet hat, um über den Osten zu sprechen! What about Ostdeutschland, Herr Oschmann? Und wenn es eine Sache gibt, die die Notwendigkeit seines Buches deutlich gemacht hat, dann diese so vorhersehbare und doch immer wieder so verschobene Dynamik.

Ähnlich verhält es sich mit seiner Analyse der Diskriminierung ostdeutscher Männer in der Gesellschaft der vergangenen Jahrzehnte. Er stellt sie dar als eine der am stärksten benachteiligten Gruppen, die wir heute in Deutschland aufzubieten haben (S. 37) und wird von Kritiker*innen dafür in der Luft zerrissen. Ich selbst halte diese Art von Diskriminierungswettstreiten, bei denen es darum geht, wer mehr und wer am meisten gegen sich stehen hat, für realitätsfern und ineffektiv im Abbau der real existierenden, strukturellen Diskriminierung - das ist meine persönliche Meinung dazu. Wenn aber als Reaktion auf Oschmanns ausführliche Darstellung von wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Nichtbeteiligung ostdeutscher Männer dem Westen nichts anderes einfällt, als über die armen ostdeutschen Männer zu spotten, die es ja so schwer haben, und Oschmann mit dem Rücken zur Wand hinzustellen als einen, dem es anscheinend egal ist, wie sehr andere gesellschaftliche Gruppen diskriminiert werden, dann kann ich das nicht so stehen lassen, denn das ist schlicht und einfach nicht das, was er sagt. "Der Westen redet immer positiv von der Vielfalt der Welt, hält aber in schönster Einfalt seine eigene Perspektive für die einzig mögliche.", schreibt Oschmann. Darauf wird dann so reagiert (Achtung, Überspitzung): Es kann ja nicht sein, dass hier alte, (in erster Linie) weiße Männer wirtschaftlich so stark benachteiligt wurden, dass sie zu den am stärksten armutsgefährdeten, am wenigsten beteiligten und am meisten öffentlich lächerlich gemacht werdenden Mitgliedern unserer Gesellschaft gehören. Dass Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit, Teilhabe und Chancengleichheit vielleicht auch und besonders diese ostdeutschen Männer einer älteren Generation miteinbeziehen sollten (laut den Daten, die Oschmann präsentiert, müssen sie das praktisch), das fällt dabei nicht zu selten unter den Tisch.

Wie kann es sein, dass eine öffentliche Debatte, die sich sonst in so vielfältigen Formen stark macht für eine diskriminierungsfreie Gesellschaft, hier den Strich zieht? Die soziologischen Studien zum Thema brauche ich nicht mehr zu erwähnen, das hat das Buch schon getan. Aber ich möchte aufmerksam machen auf die reflexartige Bereitschaft des Westens, sämtliche Benachteiligungserfahrungen, die nicht zum eigenen Weltbild passen, von sich zu weisen. Ostdeutsche AfD-Wähler können ja nicht diskriminiert werden. Dabei hat es Oschmann auf den Punkt gebracht: "Als gäbe es zwischen der Demokratiefrage und der sozialen Frage keinen elementaren Zusammenhang." (S. 117) Liebe (westdeutsche) Rezensent*innen: das was ihr da macht, das klingt ganz dunkel nach den Dingen, die Ihr sonst gerne allen anderen vorwerft. Daten zu ignorieren, zum Beispiel. Das eigene Privileg nicht zu hinterfragen. Anderen Ihre Erfahrungen abzusprechen. Denn so geht doch das Argument, nicht wahr? Wer nicht betroffen ist, von fehlendem Vermögen, fehlenden Aufstiegschancen, von fehlendem Eigenbesitz, fehlenden Partnerinnen und fehlendem Respekt, der sollte in erster Linie zuhören statt verächtlich machen. Lest die Studien selber, sie sind frei verfügbar, sucht bewusst ostdeutsche Perspektiven, übernehmt Verantwortung für Euer eigenes Wissen. Es ist nicht der Job oder die Existenzberechtigung von Ostdeutschen, das alles noch mal und noch mal zu erklären.

Eine der Top-Rezensionen des Buches auf Goodreads hat, zusammengefasst ausgedrückt, folgenden Inhalt: Das Buch ist ja total falsch. Ich kann gar keine Vorurteile gegenüber den Ostdeutschen haben. Ich habe gestern einen getroffen und fand ihn nett! Warum diese Denkweise problematisch ist, muss ich hoffentlich niemandem mehr erklären. Hier ist es erneut die Reaktion auf Oschmanns Buch, die auf den Punkt bringt, was genau eigentlich in der Debatte schief läuft. Der Westen ist inkonsequent in seiner Wahrnehmung der Welt, reagiert mit Ablenkargumenten, anekdotischer Evidenz, Intoleranz und Engstirnigkeit, sobald es um den Osten geht, im Übrigen alles Dinge, bei denen er sonst gar nicht schnell genug sein kann, sie anderen zum Vorwurf zu machen. Deswegen: Practice what you preach, Westdeutschland, halte dich an die Regeln, die du anderen vorgibst. Dann können wir auch zu einer zivilisierten Debatte zurückkehren. Oschmanns Buch ist keine zivilisierte Debatte, aber möchte es auch nicht sein. Dazu sage ich - ist okay, Demokratie ist offen für das, was dieses Buch zu sagen hat, sie muss es sein.

Streitschriften hat es schon immer gegeben, und es hat im Übrigen auch schon immer Menschen gegeben, die den Autor*innen derartiger Streitschriften Spaltung vorwurfen, Unziemlichkeit, Polemik und fehlende kognitive Kapazitäten. Aber diese Schriften tun in den meisten Fällen nur genau das, wofür Literatur da ist: Aufrütteln, die Leser*innen aus der Komfortzone hinauszerren, sie mit neuen und anderen Meinungen konfrontieren, und das nicht mit Samthandschuhen unter Wahrung der Publikumsbequemlichkeit, sondern unter Zuhilfenahme der Methode Eiswasser-ins-Gesicht. Das heißt auf gar keinen Fall, dass alles uneingeschränkt stimmt, was in solchen Werken steht - unter keinen Umständen. Alles darf und muss in Frage gestellt werden, und wir sollten selbst am besten wissen, dass jemand, nur weil er oder sie laut ist, nicht automatisch Recht hat. Aber die Leserschaft in einer pluralistischen Gesellschaft muss hin und wieder mal gezwungen werden, sich mit anderen Perspektiven zu beschäftigen, nachzudenken, auch über sich selbst, und auch unangenehme Gedanken zuzulassen. Derartige Kriterien erfüllt dieses Buch mit ziemlicher Sicherheit. Ich würde mir in der Folge nun wünschen, dass die Argumentationsniveaus von Osten und Westen sich als Reaktion auf dieses Buch etwas angleichen. Dass der Westen sich interessiert, und zwar nicht nur so weit, wie es die Kriterien für "allgemeines, bildungsbürgerliches Gesellschaftsinteresse" erfüllt, sondern so, dass es weh tut. Wenn es weh tut im Selbstbild, dann wirkt es auch. Ich wünsche mir eine differenzierte Debatte, und ich bin mir sehr sicher, dass auch Dirk Oschmann sich diese wünscht. Lasst uns dieses Buch als Anhaltspunkt nehmen, um von einer Problemanalyse hinzukommen zu einem Lösungsvorschlag. Wie können wir dafür sorgen, dass der Westen den Osten anders behandelt? Wie können wir dafür sorgen, dass die Perspektiven sich diversifizieren? Wie können wir dafür sorgen, dass wir als lange geteiltes Land mit zwei unterschiedlichen und doch zusammengehörenden Geschichten heute eine gemeinsame Geschichte weiterschreiben können?

Eure Lösungsansätze könnt Ihr gerne in die Kommentare schreiben, liebe Leserschaft.


Hanna


 

 

Literatur:

Oschmann, D. (2023). Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung. Ullstein.

Boyer, D. (2001). Ostalgie and the Politics of the Future in Eastern Germany. Public culture 18(2), 361-381.



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