Nach dem 9. Juni fielen Hanna und ich in ein kleines Loch. Die Ergebnisse der Europawahl, gerade in unserer ostdeutschen Heimat, haben uns zwar nicht verwundert, aber dennoch erschüttert. Ein paar Tage lang tauschten wir uns untereinander und mit anderen darüber aus, waren frustriert und auch verstört - und überlegten uns dann, wie wir hier auf dem Blog weitermachen wollen. Mir kam der Gedanke, dass wir unsere Eindrücke und Empfindungen zunächst einmal mit allen Leser*innen teilen könnten - erstens, damit manche sehen, dass sie nicht allein sind, zweitens, um allen zu zeigen, wie es uns mit diesen Ergebnissen geht, was wir befürchten, wovor wir wirklich Angst haben. In der nächsten Zeit werden wir sicherlich noch tiefer in diese Materie einsteigen, aber heute möchten wir euch ein recht akkurates Transkript unseres Gesprächs vom 19. Juni präsentieren, in dem wir uns genau darüber unterhalten haben. Lest selbst und schreibt uns gerne, wie es euch ging, wie es euch jetzt geht, und was euer Plan ist.
Weronika:
Okay, Hanna, wir müssen reden. Zur Klarstellung für unsere Leser*innen, wir lachen gerade ein bisschen, aber wir haben uns schon ungefähr 20 Minuten eingesprochen und überlegt, worüber wir reden wollen und wie wir das Ganze aufbauen. Es geht einfach darum, dass wir uns darüber austauschen, wie es uns aktuell geht, wie es uns nach der Wahl ging, welche Gefühle das in uns ausgelöst hat. Also, Hanna, was hast du am 9. Juni gemacht?
Hanna:
Am 9.
Juni war ich schwimmen, und danach war ich
noch ein bisschen im Park und
hatte ein Buch dabei, war alles entspannt, ich hatte nicht mal Leute dabei. Ich hatte die Wahl tatsächlich relativ gut verdrängt, weil ich nicht in Person wählen war, sondern per Briefwahl. Dann wurde ich von einer Freundin angerufen, die ich in Leuven kennengelernt habe, sie nennt mich mittlerweile ihre politische Beratung. Sie war total am Boden
zerstört, mehr oder weniger. Das war der Punkt, wo ich mich dann damit auseinandergesetzt habe und tatsächlich zum ersten Mal in die
Ergebnisse reingeschaut habe. Und dann war ich einfach nur wütend und habe eine
Stunde lang mit ihr darüber geredet und wir haben uns gegenseitig so ein
bisschen beieinander ausgeheult. Den Rest des Abends
hab ich dann damit verbracht, mir die aktualisierten Zahlen anzuschauen, mit
meinen Eltern zu telefonieren, irgendwann nach Mitternacht sehr wütend ins Bett zu gehen und beschissen zu schlafen. Wie war es bei dir?
Weronika:
Ja, erstaunlich ähnlich. Ich hatte an dem Tag ein Orchesterkonzert in Arnstadt, das endete etwa gegen 18.30. Die ersten Prognosen und Hochrechnungen waren schon da. Ich wollte aber eigentlich gar nicht drauf schauen, weil wir rausgelaufen sind und unsere Konzertmeisterin aufs Handy sah und meinte, es ist wohl ein Trauerspiel. Das hat mir schon gereicht, ich dachte, ich kann mich damit jetzt nicht befassen. Ich habe mich erst mal umgezogen und bin dann mit einer Freundin noch schön chinesisch essen gegangen in Arnstadt. Irgendwann haben wir natürlich trotzdem reingeschaut in die Prognosen und in die Hochrechnungen. Sie kommt aus Bayern, ich komme aus Sachsen, beide wohnen wir gerade in Erfurt. Natürlich interessiert uns auch das Overall-Ergebnis der Europawahl, aber wir wollten auch insbesondere schauen, wie Erfurt gewählt hat, wie Thüringen gewählt hat, wie Sachsen bzw. Görlitz und Bayern bzw. ihr Ort gewählt haben. Das war dann schon sehr traurig, wir haben regelmäßig aufgeschrien und ich glaube, die Leute im Restaurant hielten uns für ein bisschen bedeppert, aber es ging nicht anders. Je mehr Ergebnisse kamen, umso tragischer wurde es. Wenn wir ganz ehrlich sind, sind wir doch alle nicht überrascht. Es ist nicht so, als wäre es vom Himmel gefallen. Die Wahlumfragen vorher waren genau das, was es am Ende auch war, und man merkt, wie sich die Tendenz ändert. Am Anfang habe ich noch gesehen, dass die AfD in Erfurt ganz lange vorne lag bei der Auszählung und das wurde dann aber immer weniger. Am Ende haben wir uns richtig gefreut, als sie nur noch bei 20 Prozent stand. Ähnlich in Görlitz, wo die Ergebnisse ja noch viel krasser sind, wie wir wissen. Hanna hat ja in Görlitz gewählt, ich habe in Erfurt gewählt, und in Görlitz sind die Ergebnisse noch viel drastischer. Görlitz hatte den höchsten AfD-Anteil deutschlandweit bei der Europawahl und das ist schon extrem. Meine Freundin aus Bayern hat dann bei sich geschaut und meinte, sie findet es merkwürdig, dass sie gerade sehr froh ist, dass die CSU vorne liegt. Also es ging uns immer schlechter, da haben wir gesagt, gut, wir legen die Handys weg und wir schauen nur noch ab und zu drauf. Aber trotzdem, so alle zehn Minuten - ich schaue nochmal rein. Man hat richtig gemerkt, wir haben ja vorher kurz darüber gesprochen, wie wir in diese Trauerphasen abgedriftet sind. Erst Denial, das kann nicht sein, das kann nicht sein, das kann nicht sein. Gut, ist ja noch nicht ausgezählt. Dann Wut, wie können die Leute eigentlich so bescheuert sein, dass sie eine Partei wählen, die dermaßen gegen ihre eigenen Interessen agiert, beziehungsweise eine Partei, die nationalsozialistisches Gedankengut verbreitet. Ja, dann wurden wir ein wenig feilschend und haben uns überlegt, gut, bis zur Landtagswahl kann sich ja noch einiges ändern. Denn für alle, die es nicht wissen, in Brandenburg, in Thüringen und in Sachsen stehen im September Landtagswahlen an. Dann sind wir schnell abgedriftet in die Depression und überlegten uns, wohin wir auswandern sollen. Und sie hat es gut, denn sie geht jetzt erst mal nach Taiwan.
Hanna:
Näher dran an China, aber wenigstens weg von der AfD.
Weronika:
Das waren bei mir die ersten Gefühle an dem Wahlabend.
Irgendwann bin ich dann auch schlafen gegangen, habe am nächsten Morgen einmal
geschaut, habe natürlich in Görlitz die einzelnen Stadtbezirke aufgedröselt und
war wirklich schockiert.
Hanna:
Der nächste Tag war wirklich - da ging's mir echt schlecht. Ich meine, ich
hatte Uni, ich war unterwegs, ich hatte auch Sachen zu tun, die ich eigentlich
hätte machen sollen, aber du bist so unkonzentriert die
ganze Zeit, du liest irgendwelche Berichte, deine Gedanken sind abgeschweift, irgendwo anders hin.
Weronika:
Ja, ich finde es auch überraschend. Ich hatte dann an dem Tag danach ein bisschen das Gefühl von Versagen. Auch wenn wir das ja nicht gewählt haben, aber wir setzen uns schon länger dafür ein und wir verteidigen den Osten ständig gegen Angriffe von außen, oft von westdeutscher Seite, die uns unterstellen, dass hier nur Nazis wohnen und alle Leute rechts wählen und die alle ein bisschen dumm und zurückgeblieben sind. Die ganze Zeit spricht und schreibt man dagegen an und dann kommt so ein Wahlergebnis und was sagst du dann? Wir haben nie argumentiert, das will ich nochmal klarstellen, wir haben nie argumentiert, dass es hier keine Nazis gibt, ganz im Gegenteil, es gibt hier viel zu viele Nazis. Wir argumentieren lediglich, dass nicht alle Nazis sind und dass wir immer noch eine stärkere Zivilgesellschaft haben, als diese ganzen Nazi-Wählenden. Ich will die Ergebnisse gar nicht kleinreden, aber so schlimm es ist, dass overall vielleicht im Osten gut 30, maximal 40 Prozent AfD wählen, heißt das immer noch, dass 70 Prozent sie nicht wählen. Und nicht zu vergessen die ganzen Nichtwähler*innen, die ich hier sehr bewusst ansprechen will: Bewegt euren Arsch zur Urne, ich kann die Ausreden nicht mehr hören. Wenige Dinge machen mich so wütend wie Nichtwähler*innen. Für Leute, die das nicht so ganz verstehen: 100 Leute sind wahlberechtigt, wenn davon 50 hingehen und davon 25 AfD wählen, hat die AfD 50 Prozent. Wenn alle hingehen und die 25 Leute AfD wählen, sind es 25 Prozent. Das ist ein signifikanter Unterschied, deine Stimme zählt, es ist nicht egal. Und trotzdem, ich weiß nicht, mich hat das wirklich so frustriert. Was machen wir eigentlich? Wir haben ja auch am Anfang vom letzten Blogpost geschrieben, wir müssen erst mal überlegen, was wir hiermit machen wollen, wie wir weitermachen wollen. Ich will auch auf gar keinen Fall den Anschein erwecken, dass wir hier irgendwie Nazis verteidigen, ganz im Gegenteil.
Hanna:
Ich glaube, der Eindruck kann auch schlecht entstehen. Ich glaube, da waren wir bisher immer deutlich genug in allem, was wir so gesagt haben. Wir hatten immer diesen Ansatz, selbst, wenn wir über Rechtspopulismus und Rechtsextremismus im Osten geschrieben haben, okay, wir wollen das hier begreiflich machen und verstehen lassen, wo sowas herkommen kann, einfach von einer soziologischen Perspektive her. Aber wir wollten das nie entschuldigen und wir werden das auch nie entschuldigen. Das ist so eine Linie, wo ich es uns mal selber zuschreiben würde, dass wir die bisher gut eingehalten haben.
Weronika:
Ich wollte es nur mal in aller Deutlichkeit sagen, weil ich wirklich an dem Tag nach der Wahl den Gedanken hatte: wie überhaupt noch für den Osten streiten, im Hintergrund diese Ergebnisse? Wenige Leute sehen das so differenziert. Wir müssen uns auch mal Gedanken machen darüber, wer uns eigentlich liest und wie wir diese Blase durchbrechen können, die uns liest. Ich finde unsere Blase super, aber ich fände es natürlich auch schön, wenn diesen Blog mal Leute lesen würden, die überhaupt nicht mit uns übereinstimmen.
Hanna:
Das denke ich mir auch immer, wenn ich, keine Ahnung, irgendwelche Wahlaufforderungen in meinen Instagram-Status oder meinen WhatsApp-Status stelle - ich glaube, mein WhatsApp-Status ist wahrscheinlich sogar noch ein bisschen diverser als mein Instagram-Status - da denke ich mir, naja gut, das sehen jetzt halt Leute, die aller Wahrscheinlichkeit nach in der Mehrzahl sowieso nicht anfangen, AfD zu wählen oder gar nicht erst zu wählen. Du hast es ja sehr gut auf den Punkt gebracht: nicht wählen ist mittlerweile Mitläufertum, oder nicht mal Mitläufertum, das ist einfach nur Widerstandslosigkeit bei einer Entwicklung, die wir gerade in diesem Land nicht widerstandslos hinnehmen können. Und das ist, glaube ich, vielen Leuten einfach überhaupt nicht bewusst. Aber das ist in dem System, was wir haben, indirekte Zustimmung. Und wenn du deine indirekte Zustimmung der AfD gibst, weil die stärkste Kraft werden, weil du nicht zum Wählen gegangen bist, dann ist das schwierig. Das ist schon bitter und sollten wir vielleicht einfach nicht machen.
Weronika:
Ich finde das immer so interessant, wenn nach den Wahlen plötzlich sowohl die alt-etablierten Parteien als auch Leute aus unserem Milieu sich darüber aufregen. Machen wir uns nichts vor, wir gehören vielleicht zur oberen Mittelschicht, wir sind immer noch relativ gut dran. Und gerade solche Leute wundern sich dann über die Ergebnisse und fragen sich, es kann doch nicht sein, es geht ja allen gut, und so weiter. Und ich finde, es ist nicht alles so einfach. Wenn ich aus Gesprächen mit Leuten rausgehe, die tendenziell entweder gar nicht oder die AfD gewählt haben, höre ich da ganz viel Frustration raus mit den aktuellen Zuständen. Noch mal, um es zu betonen, Frustration ist absolut kein Grund, eine faschistische Partei zu wählen. Und wie die Statistiken gezeigt haben, ist es wohl so, dass gut die Hälfte der Leute die AfD aus Überzeugung wählt und die andere Hälfte als Protestwahl. Dann kann man sich natürlich fragen - wo kommt dieser Unmut her? Wenn ich höre, dass Leute wirklich ganz viel aus ihren Lokalpolitik-Ergebnissen auf alles andere schließen, also nicht nur auf Landtag und Bundestag, sondern auch auf die EU. Man muss sich überlegen, wir haben ins EU-Parlament so viele Leute aus der AfD geschickt. Es geht hier nicht mal um unsere unmittelbaren Kommunalsachen oder unsere Landessachen und so weiter. Und man kann sich überlegen, woher kommt das? Es ist ein eindeutiger Kredibilitätsverlust geschehen in den letzten Jahren. Woran liegt das? Natürlich haben da einige andere Parteien auch ihre Schuld, wenn sie sich nicht volksnah und elitär und abgehoben geben. Das ist trotzdem noch lange kein Grund, die AfD zu wählen. Worüber wir auch schon geredet haben, ist, dass die AfD ihr Wahlprogramm sehr stark gegen die Interessen dieses Klientels aufgebaut hat, das sie eigentlich wählt. Ich frage mich, wie viele Leute sich das Wahlprogramm der AfD überhaupt durchgelesen haben. Dann wüssten sie nämlich, was das für Folgen hätte, wenn diese Partei auch nur irgendeine Wahl gewinnt.
Hanna:
Also ich meine, die sind im Endeffekt eine neoliberale Partei, die vorhaben, soziale Unterstützungssysteme stark zurückzufahren. Und das sind teilweise soziale Unterstützungssysteme, auf die AfD-Wähler*innen angewiesen sind.
Weronika:
Sowas wollen die streichen, liebe Leute. Wenn du eine alleinerziehende Mutter bist und die AfD wählst, vielleicht ins Bürgergeld rutschen möchtest, handelst du hier gerade gegen deine eigenen Interessen. Denn alle diese Sachen wird die AfD verbieten.
Hanna:
Den Punkt, den du vorher gemacht hast, finde ich sehr wichtig. Ich habe genau das mit meinen Eltern auch besprochen. Was du nach der Wahl gehört hast, war diese ewige Litanei von, wir müssen jetzt analysieren, woran es lag und so weiter und so fort. Wo ich mir denke - es war von vornherein klar, woran es lag. Es war abzusehen. Es ist nicht so, dass es ein Rätsel ist, warum diese Entwicklungen stattfinden. Weil wir diese Entwicklungen in allen demokratischen Ländern in Europa und auch in den USA, weil wir die überall sehen. Hier sollte nichts dabei sein, was jetzt für euch ein großes Rätsel sein müsste, wenn ihr in der Politik seid und euch tatsächlich mit den Bedürfnissen von Menschen auseinandersetzt. Aber da kommt dann wieder diese Berlin-Bubble oder sowas durch, dass du diese Phrasen raushaust, ja, wir müssen jetzt analysieren, woran dieses niederschmetternde Ergebnis lag. Ich kann es mir auch selber vorsagen, das bringt mich nicht weiter in der Debatte, nur weil ihr zum zehnten Mal das Ergebnis analysieren wollt.
Weronika:
Albert Einstein hat mal dieses Zitat gebracht, was jetzt viele Leute zitieren gegen die AfD-Wählerschaft, absolut zu Recht: Wenn es eine Krise gibt, dann suchen die Intelligenten nach Lösungen und die Idioten nach Schuldigen. Und das ist ja genau das, was die AfD bespielt. Aber man muss es auch mal so rum sehen - ich will es nicht komplett umdrehen, aber genau das, was du gerade angesprochen hast, die Leute, die versuchen rauszufinden, woran es liegt, kommen dann oft zum Ergebnis: die im Osten, die sind halt zurückgeblieben, es liegt an denen. Wir beobachten in allen westlichen Demokratien Populismus, und auch nicht nur in Ostdeutschland, auch in Westdeutschland. Ich will hier überhaupt keinen Whataboutism anfangen, aber man muss das alles zusammen verbinden und in diesem Kontext sehen. In ganz Westeuropa, in der ganzen westlichen Welt ist der Populismus auf dem Vormarsch und erzielt sehr gute Wahlergebnisse. Das ist nicht ein reines Ostproblem. Das ist zu einfach gedacht.
Hanna:
Ja,
total. Ich
habe am Wahlabend mit Freunden aus Leuven geschrieben, die sind nicht alle aus Belgien, aber das war meine Freundesgruppe dort. Da war auch eine Freundin aus
Westflandern, das ist sozusagen, ich will jetzt nicht sagen, das
Ostdeutschland von Belgien, aber es ist halt auch so eine eher ländliche Region, eher ein -
Weronika:
Das Ostdeutschland von Belgien.
Hanna:
Genau. Und historisch gesehen haben die auch diese starke Eigenidentität, dass du dich absetzen willst vom Rest, dass das irgendwie historisch so passiert ist, dass du heute diese Identität hast. Die Freundin hat mir die Wahlergebnisse von Westflandern geschickt und das war eins zu eins dasselbe. Stärkste Kraft war eine Partei, die sich Vlaams Belang nennt, die sind rechtspopulistisch und teilweise rechtsextrem. Zweite Kraft waren die Rechtskonservativen, die wollen, dass Flandern vom Rest Belgiens unabhängig wird. Das ist ein Wahlergebnis, da saß ich davor und hab ihr geschrieben, naja, wenigstens ist es nicht nur bei uns so schlimm, wenigstens ist man nicht alleine. Das hat mir dann auch noch mal so ein bisschen, ich weiß nicht, Courage oder Zuversicht gegeben, was absurd klingt, aber das ist einfach dieses Ding: du bist nicht allein in diesem ganzen Struggle. Du hast Leute, denen es genauso geht und das sind nicht mal Leute aus Deutschland, aber es ist dieselbe Entwicklung und es wird Wege geben, damit umzugehen. Das hat mir sehr geholfen. Und hat noch mal dieses Bewusstsein dafür gebracht: das ist kein ostdeutsches Ding. Es ist so eine Verkürzung, zu sagen, das sind jetzt hier die dummen Ossis.
Weronika:
Dann würde ich noch mal einen Punkt ansprechen, der sehr viel durch die Medien gegangen ist, nämlich die Jugend. Es ist natürlich absolut erschreckend, wenn man sich anschaut, wen die Erstwähler*innen gewählt haben, weil sich das überhaupt nicht signifikant unterscheidet von den restlichen Stimmen in der Bevölkerung. Trotzdem finde ich es höchst fragwürdig, dass jetzt die Jugend wieder als Sündenbock dargestellt wird, jetzt müssen wir uns aber überlegen, woran liegt das, dass die so rechts gewählt haben? Ja, liegt bestimmt an TikTok. Und es stimmt, die AfD ist die Partei mit der stärksten Medienpräsenz auf TikTok und die haben wirklich mehr Follower als alle anderen zusammen, aber was wieder komplett vergessen wird, ist, dass der Rest der Bevölkerung genauso gewählt hat. Hängen die auch alle auf TikTok? Liegt es an TikTok? Gefährdet TikTok unsere Demokratie? Kann man so sehen. Würde ich vielleicht in Teilen auch unterschreiben, aber das ist nicht das, womit wir uns beschäftigen müssen, denn Deutschlands Bevölkerungsstruktur besteht nicht zum Großteil aus Erstwähler*innen. Wir müssen an der Demokratiefähigkeit der Gesamtbevölkerung arbeiten, die wahlberechtigt ist, und auch an der, die nicht wahlberechtigt ist, wie auch immer. Dieser merkwürdige Fokus auf die Jugend, jetzt plötzlich, jetzt, wo es ganz viele Leute die letzten Jahre einen Dreck geschert hat, wie es uns geht, jetzt plötzlich sind wir wieder interessant, weil wir extrem wählen, genauso wie unsere Eltern, Großeltern, Tanten, Onkels, Bekannte in allen möglichen Altersgruppen.
Hanna:
Das finde ich auch so absurd, wenn man sich den Diskurs dazu mal anschaut: die Wählerstimmen der Jüngeren für die Grünen bei der Europawahl 2019 vs. heute und den Anstieg der AfD und diese ganzen Entwicklungen, die man halt bei jungen Leuten sieht. Dann finde ich das total absurd zu sagen, da gab es einen Prioritätenwechsel bei der Jugend. Ne, das stimmt einfach nicht. Die Leute, die 2019 die Grünen gewählt haben, wählen jetzt Volt, die bei den unter 24-Jährigen meines Wissens nach um die 9% gekriegt haben, was für eine Kleinstpartei ein absolutes krasses Ergebnis ist. Ich glaube, Jena als Stadt hat das stärkste Volt-Ergebnis ostdeutschweit. Da denke ich mir: das kann doch jetzt nicht sein, dieses oh, die wählen alle nur rechts und darüber wird dann einfach vergessen, dass diese anderen Prioritäten, die 2019 da waren, immer noch da sind und dass es sich einfach nur ein bisschen verändert hat und dass junge Wähler*innen tendenziell flexibler in ihrer Wahlentscheidung sind als die ältere Generation. Das einfach nur zu verkürzen und zu sagen, ey, warum haben die Jungen hier alle rechts gewählt, warum sind das jetzt alles TikTok-Nazis, schlechter kannst du es nicht machen, über so eine Sache zu reden.
Weronika:
Sie können uns ja auch mal fragen, warum es in Deutschland so ist, dass die Jugend genauso wählt wie die ältere Generation. Insgesamt wählt die Jugend nicht signifikant anders rechts als der Rest der Bevölkerung und das ist in anderen Ländern, zum Beispiel in Polen, ganz anders. Da wählt die Jugend viel, viel weniger rechts und warum? Weil dort ganz lange eine rechtspopulistische Partei an der Macht war und die Leute gesehen haben, was das mit der Jugend macht und die Jugend gesehen hat, was das mit ihr macht, und sie dann nicht mehr gewählt haben. Trotzdem, ich möchte nicht, dass es soweit kommt, dass erst wieder sehr viele Leute leiden müssen, bis wir es endlich mal wieder gecheckt haben. Gerade mit unserer deutschen Vergangenheit sollten wir es ja wohl eigentlich besser wissen.
Hanna:
Diese Bewegung von hier war schon mal jemand Rechtes an der Macht und jetzt sind die wieder schwächer, das sieht man unter anderem in England. Ich weiß nicht, wie sehr da gerade das Wissen da ist, aber in England sind gerade Parlamentswahlen angesetzt und die Tories, die die letzten, weiß ich nicht, 16 Jahre lang durchregiert haben, waren mit rechtspopulistischen Stimmen in den letzten Jahren, also mit Rishi Sunak, mit Boris Johnson, sehr am Start. Und jetzt auf einmal führt Labour alle Umfragen an und zwar mit großem Vorsprung. Das sind Entwicklungen, die man total vergisst. - Was ich aber auch in dieser ganzen Debatte um die Jugend immer wieder krass finde und wo man eben trotz allem darüber nachdenken muss: Meine Schwester hat mir von einer Freundin erzählt, die an der Hochschule Meißen studiert. Dort sollen laut Umfragen die Hälfte der Leute - oder über die Hälfte, ich weiß es nicht mehr genau, auf jeden Fall mehr als die Durchschnittswahlergebnisse - für die AfD gestimmt haben. Das fand ich so krass: Meißen, das ist eine Hochschule für den öffentlichen Dienst. Das sind Leute, die später verbeamtet sein werden, das sind Leute, die ihr Geld vom Staat bekommen. Das sind nicht Handwerker*innen, die sich über ihre Zukunft Gedanken machen oder deren Betrieb gerade den Bach runter geht, die mit dem Fachkräftemangel zu tun haben, das sind keine Leute, die Arbeiter*innen in irgendwelchen Firmen sind, die sich über Firmenschließungen einen Kopf machen müssen, die mit dem freien Markt zu kämpfen haben. Das sind Leute, die vom Staat Geld bekommen werden, die ihr Leben komfortabel leben werden können. Ich will auch gar nichts dagegen sagen, mein Vater ist auch verbeamtet, meine Familie kriegt auch viel Geld vom Staat. Aber sich dann hinzustellen und eine Partei mit einem Programm voller Hass zu wählen, eine Partei, die Rechte nehmen will von Menschen, von Minderheiten, von Geflüchteten, von allen, die nicht der gewollten, in Anführungszeichen, "Norm" entsprechen, die die Sozialleistungen kürzen wollen. Und das ist nicht mal "dein selbst erarbeitetes" Geld, was dort ausgegeben wird für diese Sozialleistungen und du willst es anderen Leuten streichen? Das sind junge Leute, die sich eigentlich über nicht viel beklagen können. Das hat mich wirklich schockiert; ich saß davor und dachte mir, das kann nicht sein, dass man so wohlstandsverwöhnt ist oder so von den Eltern beeinflusst, ich weiß es nicht, dass man dann auf die Idee kommt, ich habe das jetzt nötig, die AfD zu wählen, aus dieser Perspektive raus. Da gibt's ja nicht mal die typischen sozioökonomischen Erklärungen.
Weronika:
Ja, das ist interessant, weil wir beobachten, dass so viele Leute AfD wählen, obwohl es so vehement gegen ihre eigenen Interessen geht. - Also, was passiert, wenn die AfD gewinnt im September?
Hanna:
Ja, das ist eine gute Frage. Wenn man sich momentan die Umfragen anschaut, wird es ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit der CDU. Aber die große Frage ist nicht unbedingt, wer stärkste Kraft wird, sondern wie sich die Koalitionen gestalten werden. Wir haben vorhin beide schon gesagt, wir trauen weder der CDU noch dem BSW über den Weg. Das ist ja auch eine relevante Kraft in dieser Debatte. Ich habe letztens einen Beitrag eines Politikwissenschaftlers von der Uni Leipzig gelesen, der meinte, es könnte durchaus passieren, dass man Drei-Parteien-Parlamente haben wird. In Sachsen sozusagen CDU, AfD und BSW, weil die anderen nicht über die 5%-Hürde kommen. Und da hatte ich dann wirklich, wirklich einfach nur Angst.
Weronika:
In Thüringen war die Linke noch immer ziemlich stark, das fand ich auch ganz interessant, weil sich gezeigt hat, wenn der Ministerpräsident direkt gewählt werden würde, würde immer noch Bodo Ramelow gewählt werden. Aber die Linke kommt hier aktuell auf 10% und ist im Moment in Thüringen im Parlament in der Minderheitsregierung. Ob sich das noch mal dreht, ist fraglich. Aber jetzt ganz konkret, was würde passieren? Ich finde es immer ein bisschen merkwürdig, von mir selbst auszugehen, weil wir immer noch in sehr privilegierten Positionen sind, ich vielleicht noch ein Stückchen weniger, weil ich zwei Staatsbürgerschaften habe und nach irgendeiner Zeit auch aus dem Land fliegen würde. Aber ich denke dann immer noch an meine Eltern, die beide in Görlitz wohnen. Meine Mutter hat keine deutsche Staatsbürgerschaft. Meinen Eltern geht es auch nicht gut mit den aktuellen Entwicklungen. Und natürlich, irgendwann steht dann die Frage im Raum, ob man bleiben will oder nicht. Und dass man sich so selbst aus seiner Heimat zurückziehen muss, tut schon enorm weh. Ich überlege auch wirklich immer mehr, ob ich dann noch hier bleiben will oder nicht. Angenommen, die AfD gewinnt im September und ist dann eine Landesregierung hier in Thüringen - das hat wirklich enorme Auswirkungen auf unser alltägliches Leben. Ich will das auch gerade deswegen sagen, weil das Leute betrifft, auch in unserem Alter vielleicht, auch Leute, die denken, es ist ja egal, ob man wählen geht oder nicht, weil es keinen Einfluss hat. Die AfD kürzt, völlig egal, in welchem Landtag sie landet, explizit die Fördermittel für die Universitäten und Hochschulen, für Kitas, für Alleinerziehende, Elterngeld, Bürgergeld.
Hanna:
Sie werden Verantwortung für die Polizei haben, als Länder.
Weronika:
Genau. Sachen wie Bürgergeldanträge und so weiter, vieles davon läuft auch über die Bundespolitik, aber Landespolitik betrifft zum Beispiel auch unsere Hochschulen, betrifft die Polizei, betrifft die sogenannte Sicherheit.
Hanna:
Betrifft Nachhaltigkeitsregelungen, die die Länder machen, die ökologische Transformation fällt da ja auch viel mit rein. Das betrifft Kulturförderung. Ich denke an das Görlitzer Theater, die ein wirklich gutes Theater sind und das auch lange, lange Jahre schon, die aktuell extreme Geldprobleme haben. Wenn die AfD gewinnt, na ja.
Weronika:
Die AfD möchte Kultur nicht fördern, erstens. Und zweitens, überlegt mal, wer euch diese Kultur bietet? Das sind ganz, ganz oft Leute, die nach dem Schema der AfD nicht zu Deutschland gehören. Das sind Leute mit doppelter Staatsbürgerschaft oder ohne deutsche Staatsbürgerschaft. Das sind auch Westdeutsche, Leute aus Großstädten, die werden sich zurückziehen. Ich sag's ganz ehrlich, ich werde mich vielleicht auch zurückziehen, wenn das hier so weitergeht. Auch wenn ich meinen Karrierefokus eigentlich auf osteuropäische Geschichte legen möchte und es dafür natürlich sehr sinnvoll ist, sich in Osteuropa aufzuhalten, wozu ich Thüringen zählen würde. Ich werde auch in Erfurt meine Promotion ansiedeln, aber ob ich hier wohnen bleibe, kann ich nicht versprechen, wenn das so weitergeht, weil da auch Fördergelder dranhängen. Und es ist nun mal so: angenommen, Thüringen oder Sachsen wird von der AfD regiert. Wir kriegen weniger Fördergelder von der EU, wir kriegen weniger Fördergelder vom Bund, von privaten Investor*innen. Die Leute möchten nichts fördern, wo Rechtspopulismus im Spiel ist.
Hanna:
Das ist auch ganz einfach so: wenn du von der EU Fördergelder kriegst, dann ist diese Förderung projektgebunden. Das heißt, es ist nicht so, dass dieses Geld einfach überwiesen wird, sondern es gibt bestimmte Projekte, zum Beispiel in den Bereichen Strukturwandel oder Kultur oder Jugendförderung oder was auch immer, die diese Gelder beantragen können. Das heißt, sobald diese Projekte nicht mehr existieren, weil kein Raum mehr da ist, kommt das Geld auch nicht. Es ist ja nicht so, dass sich jemand hinsetzt und sagt, so, wir wollen die AfD nicht fördern, deswegen kriegt Sachsen keine Gelder mehr. Das sind diese schleichenden Prozesse, die dann passieren werden. Das ist genau dasselbe mit dem ganzen Strukturwandel. Wenn du die ganze Lausitz anschaust, wenn du die Ostsachsen anschaust, da soll viel passieren in den nächsten Jahren. Da kommen Projekte, die da wieder Infrastruktur und Wirtschaftsstruktur hinbringen. Die Frage nach der Umsetzung, das ist noch mal ein anderes Thema. Aber das sind alles Projekte, die am Laufen sind und die aber auf Leute von außen angewiesen sind. Da müssen Leute hinkommen, die mit unterstützen, die da arbeiten, die auch Geld in die Region bringen, im kapitalistischen Sprech.
Weronika:
Wir kriegen das nicht alleine hin.
Hanna:
Der demografische Wandel spricht dagegen. Wenn du diese politische Entwicklung hast, ist es doch idiotisch, sich vorzustellen, dass Menschen nicht darüber nachdenken, wenn sie da hinziehen. Jede Person, jede Fachkraft aus dem Ausland wird sich darüber Gedanken machen, wie die politische Lage in Ostdeutschland ist.
Weronika:
Jeder mit einer anderen sexuellen Orientierung.
Hanna:
Ja, das kommt noch dazu. Ich habe mit Freunden geredet, die in der LGBTQ+-Community sind, die auch darüber nachdenken, wie lange sie hier noch bleiben können, wie lange das noch geht. Das ist nicht nur etwas Strukturelles, sondern dieser Aufstieg der AfD ermöglicht ja auch Räume für tatsächliche physische Gewalt.
Weronika:
Ja,
eben, das passiert jetzt schon. Zwei Freunde von mir sind von Erfurt nach
Fulda gezogen, weil sie hier so massiv rassistisch angegriffen und bedroht
wurden. Und noch ist die AfD gar nicht im Parlament. Aber die Leute, die Nazis,
die sind hier. Die
sind hier. Und wir müssen endlich was dagegen tun. Denn was als Erstes passieren wird, ist ein richtiger Braindrain wie in den 50er Jahren. Die Leute, gerade die jungen Leute, werden
abwandern. Ich habe neulich erst wieder gelesen - wenn in Thüringen wirklich alle diese
Leute rausgeworfen werden, die die AfD raushaben will, dann kann ganz Thüringen noch genau ein Krankenhaus unterhalten. Ich
bin an einem Plakat vorbeigefahren, da stand Die OP macht Dr. Novak, mit Dr. Novak
durchgestrichen und darunter geschrieben, Dr. Novak arbeitet nicht in einem
fremdenfeindlichen Thüringen.
Ja, gut für Dr. Novak.
Weronika:
Und das wird passieren. Ihr werdet schlechter betreut sein. Es wird euch schlechter gehen. Alles, worüber ihr euch jetzt beschwert, wird noch schlimmer werden.
Hanna:
Das heißt nicht, dass alternative Parteien das unbedingt besser machen. Ich will jetzt hier nicht zu politisch werden, aber wenn man sich anschaut, was die Vorschläge der FDP sind, um die Probleme anzupacken, die die Leute wirklich bewegen, dann ist das jetzt auch nicht das, wo ich jetzt hier! schreien und sagen würde, das ist jetzt genau das, was wir brauchen. Aber mit der AfD wird es schlimmer. Die Konstruktivität ihrer Lösungsansätze ist non-existent. Ich will diesen Beitrag jetzt auch nicht zu ausschließlichem AfD-Bashing verkommen lassen; alle diese Sachen, die wir sagen, sind bekannt, die sind bewusst. Die wird auch das Publikum dieses Blogs kennen, zumindest gehe ich stark davon aus, wir haben ja vorhin auch schon über unsere Filter-Bubble geredet. Aber es macht etwas mit uns, weil wir Ostdeutschland wirklich lieben, weil wir hier groß geworden sind, weil wir uns dafür einsetzen. Und dann darüber nachzudenken, dass alles hier einfach weiter den Bach runtergeht, das ist einfach angsteinflößend.
Weronika:
Angsteinflößend
und traurig und beklemmend. Und trotz allem wollen wir uns unsere Heimat nicht von diesen Nazis wegnehmen lassen. Aber es ist auch so, dass einem irgendwann die Kraft ausgeht
und die Motivation. Und nach dem Wahlergebnis ging es mir schon so. Gerade deswegen
wollten wir uns hier zusammensetzen und schauen - was machen wir jetzt
eigentlich, wie machen wir weiter? Weil uns trotz allem klar ist, wir müssen
weitermachen mit allem, was wir tun. Und wir können das Feld nicht diesen
Leuten überlassen. Deswegen jetzt zum Thema Copingstrategien, also unseren Strategien, wie wir mit der Situation umgehen.
Hanna:
Was
machst du, damit es dir mit der aktuellen Situation besser geht?
Weronika:
Viel mit Leuten reden. Und natürlich viel mit Leuten reden, die meiner Meinung sind. Das machen alle Menschen so, wenn sie wollen, dass es ihnen besser geht. Wir haben schon gesagt, wir sind in Bubbles drin, wo eigentlich niemand AfD wählt. Ich habe in meinem weiteren Umfeld Leute, die AfD wählen. Ob ich das jetzt explizit weiß oder nicht, ist eine andere Frage. Aber es gibt da auf alle Fälle Tendenzen. Und ich finde es auch ein bisschen besorgniserregend, wie jetzt ganz viel danach geschrien wird, dass man diese Leute komplett aus dem Leben streichen soll. Einerseits kann ich es komplett nachvollziehen, ich will keine Nazis in meinem Umfeld haben und auch keine Leute, die Nazis wählen. Andererseits, was glaubt ihr denn, was passiert, wenn wir das machen? Ich sage nicht, dass man mit Nazis auf Best Friends machen soll, mit Leuten, die Nazis wählen, befreundet sein soll und so weiter. Aber ich finde, trotz allem, so hart und so schwer es ist, man muss in diesem Dialog bleiben. Denn ich finde es traurig, dass diese Leute komplett aufgegeben werden. Ich kann es, wenn ich mich mit ihnen unterhalte, leider oft nachvollziehen. Aber ich halte es trotzdem nicht für richtig, weil ich nicht sehe, wie sich etwas ändern soll, wenn wir aneinander vorbeireden oder gar nicht miteinander reden. Ich weiß nicht, wie man so einen Dialog gestalten kann. Ich stehe da auch ganz oft vor einem großen Rätsel und es fällt mir oft sehr schwer. Aber kleinere Gespräche - und es müssen nicht immer superpolitische Gespräche sein. Aber wenn die Arbeitskollegin, der Arbeitskollege, was weiß ich, die Tante, der Onkel sich über die gesellschaftlichen Zustände beschwert, dann kann ich das durchaus nachvollziehen und kann mich auch über diese gesellschaftlichen Zustände beschweren. Wir ziehen nur unterschiedliche Schlüsse daraus. Und dann kann man sich über diese Schlüsse unterhalten, die man daraus zieht. Es muss nicht immer sofort alles parteipolitisch werden. Und ich glaube, es gibt wirklich Leute, die bereit sind, darüber nachzudenken. Ich meine, der Fakt, dass die Hälfte der AfD-Wählenden angibt, dies aus Protest zu tun, ist ja ein Zeichen davon. Und ich finde es ganz wichtig, dass wir mit diesen Leuten reden. Nicht in Podiumsdiskussionen - ich will Höcke da nicht sehen - aber mit den Leuten, die sie wählen.
Hanna:
Ich glaube, ich habe in meinem Umfeld ... Also nicht in Jena, glaube ich. Das kann ich mir jetzt ehrlicherweise bei den Leuten, mit denen ich in Jena enger zu tun habe, meine Freundesgruppen, das kann ich mir nicht vorstellen. Aber in Görlitz, klar, man kennt viele Leute. Und das Wahlergebnis kommt irgendwo her. Leute, die man kennt, vielleicht über drei Ecken oder vielleicht auch nur über eine Ecke, wo man halt den Verdacht hat, na ja, was haben die gewählt? Weißt du halt nicht. Das hat mich auch vor ein Rätsel gestellt. Das hattest du ja auch gesagt, man weiß nicht so ganz, wie man damit umgehen soll. Weil du auch weißt, wenn du den Kontakt abbrichst oder was auch immer, wird es nicht besser werden. Das kann es gar nicht. Was ich mir selber gesagt habe, ich glaube, das war vielleicht am Tag danach oder zwei Tage danach, da hatte ich mal mit meiner Schwester darüber geredet. Vielleicht war es ein Coping Mechanism oder ein Versuch, mir selber wieder die Fähigkeit zu verleihen, etwas machen zu können. Aber ich bin mal in mich gegangen und habe gesagt, okay, du willst es jetzt wirklich mal ansprechen. Nicht direkt nach der Wahl und vielleicht in persönlichem Kontakt und nicht über WhatsApp oder was auch immer, aber du willst mal auf das Thema kommen und sagen, so, jetzt mal Karten auf den Tisch. Ich sage dir, was ich gewählt habe, aber dafür würde mich interessieren, ob du die AfD gewählt hast oder nicht. Und ich würde dir auch gerne mal erklären, warum es mit mir damit nicht gut geht, zu wissen oder zu vermuten, dass du vielleicht die AfD gewählt hast. Da habe ich wirklich mal diesen Gedanken gehabt, okay, ich habe lange Zeit wirklich gesagt, ich will diese Kontakte nicht abbrechen. Ich habe es so ein bisschen verdrängt, glaube ich, lange. Ich habe den Verdacht gehabt - ja, okay, vielleicht ist das eine Person oder das eine Person. Und dann habe ich mir aber immer gedacht, nee, vielleicht sprichst du das mal nicht an, damit du den Kontakt erhältst und damit du die Leute nicht komplett verlierst. Damit du diesen großen Topf an Problemen und Konflikt gar nicht erst aufmachst, damit du sie nicht wegstößt. Und ich glaube, ich habe mir jetzt aber wirklich dieses Bewusstsein selber geschaffen oder mir dieses Mindset im Nachgang dieser Wahl angeeignet, zu sagen, okay, das reicht mir jetzt nicht mehr. Das ist ein Thema, an dem du jetzt nicht mehr vorbeikommen kannst. Und es ist niemand verpflichtet, mir seine oder ihre Stimme zu sagen, aber ich bin, glaube ich, offener für diese Konversation und diese Konflikte mittlerweile. Wir haben jetzt einen Zeitpunkt erreicht, wo es notwendig ist, auch mal darüber zu reden, warum wählst du so, wie du wählst und ich würde dir gerne sagen, was das für mich bedeutet. Also habe ich mir, glaube ich, so ein bisschen diese Deutlichkeit geschaffen. Habe es noch nicht so viel anwenden können in den letzten zwei Wochen, aber der Versuch ist da.
Weronika:
Das ist ja auch gar nicht so einfach. Dazu kommt ja, dass es ein emotional hochbelastendes Thema ist und du erst mal die richtige Stimmung dafür haben musst. Das ist ja nichts, was du mal ansprichst. Ich finde es manchmal auch richtig schwer, mich nicht emotional angegriffen zu fühlen - die Karte, die ich spielen kann, ist dann immer ich würde auch aus dem Land fliegen und dann würde man sagen, nee, um dich geht es ja nicht. Du bist ja eine von den Guten. Mir ist klar, andere Leute haben es viel, viel, viel schlimmer als ich, ich fliege hier nicht als Erstes raus, und trotzdem: ich habe sehr viele Freunde, die nicht die deutsche Staatsbürgerschaft haben und ich will nicht, dass es denen schlecht geht. Ich möchte einfach nicht, dass es Leuten schlecht geht. Ich weiß nicht, ob das zu viel verlangt ist. Ich will, dass Leute hier leben können, ohne ständig Angst zu haben, ohne umziehen zu müssen, weil sie hier rassistisch angegriffen werden. Das kann doch nicht sein. An die Leser*innen: ihr könnt den Blog ja an potenzielle AfD-Wähler*innen in eurem Umkreis weiterleiten. Ich würde mich gerne mal auf einer sachlichen Ebene mit den Leuten unterhalten, weil ich wissen möchte, warum. Weil ich es nicht verstehen kann, wie man sowas freiwillig auf sich nehmen kann und es trotzdem so viele tun. Gerade in unseren Kontexten, also in Thüringen und in Sachsen, ist es nun mal viel krasser, sich dagegen zu stellen, weil es einfach viel mehr Leute sind, die die AfD wählen.
Hanna:
Das kann ich auch nicht mehr hören. Bei den Demokratiedemos dieses Jahr wurde über kleine ostdeutsche Städte und über die Demos dort berichtet, wo halt nicht so viele Leute da waren - aber es waren Leute da. Und dann schaust du dir online Wessi-Kommentare dazu an, warum wird jetzt hier Aufmerksamkeit von unseren Demos abgelenkt und wollt ihr uns unsere Demo-Bereitschaft absprechen, nur weil wir im Westen demonstrieren, wo ich mir dachte, Alter, es verlangt so viel mehr Mut, sich in einer kleinen ostdeutschen Stadt oder in einem Dorf, wo du drei Viertel der Leute kennst und wo die Hälfte der Leute AfD gewählt hat, hinzustellen und für sowas einzusetzen. Das ist ja auch so ein Ding, was du gerade zur unseren emotionalen Involviertheit gesagt hast: die AfD hat es nicht nur auf Dinge wie Nationalität oder Sexualität abgesehen, da geht's ja schon um Sachen wie politische Orientierung. Wenn ich jetzt sage, ich bin sehr links in meiner Meinung - das reicht schon aus. Alles kann ja potenziell gegen dich instrumentalisiert werden. Und das ist, glaube ich, echt nicht zu viel verlangt, dass Leute in unserem Umfeld, die potenziell AfD gewählt haben, sich auch mal mit der Tatsache auseinandersetzen, dass das für uns einfach eine Gefahr bedeuten kann und uns Angst und Unsicherheit fühlen lässt. Wenn ich mit meiner Schwester am Steg bei uns am See Nazi-Aufkleber abmache und Leute vorbeikommen und ich Angst haben muss, dass diese Leute uns gleich angreifen, dann ist das ein Umfeld, was die AfD mit erschaffen hat und was Personen mit ihren Wahlergebnissen mit erschaffen haben.
Weronika:
Um Kraftklub zu zitieren, Nazis raus ruft es sich leichter, da wo es keine Nazis gibt.
Hanna:
Exakt. Aber gut, dass du Kraftklub erwähnst: eine meiner Coping-Strategien ist Musik, weil ich so ziemlich alles in meinem Leben mit Musik verarbeite, und ich habe mir eine Playlist auf Spotify erstellt, Elections 2024 Mental Support, mit Liedern, mit denen es mir besser geht oder die mich weniger allein fühlen lassen. Da ist so achtzig Prozent Kraftklub drin, und ich hätte gerne Musikempfehlungen, weil ich das Gefühl habe, ich brauche mehr deutschsprachige Musik, in die ich meine ostdeutsche Wut und Erschöpfung channeln kann. Also falls von den Leser*innen jemand Musikempfehlungen hat, leitet sie an mich weiter oder fügt sie der Playlist hinzu :)
Weronika:
Die verlinken wir dann unter dem Text. - Das ist also unser Endresultat: wir müssen weitermachen mit unserem Blog.
Hanna:
Aber das, was du gesagt hast, dass wir vielleicht versuchen, das Zielpublikum irgendwie zu verbreitern, finde ich gut. Da könnten wir dranbleiben und vielleicht Wege finden - ich weiß noch nicht so ganz, wie, aber vielleicht irgendwie Wege finden, wie man die Bubble ein bisschen durchbrechen könnte.
Weronika:
Und um es noch mal zu sagen - wir fühlen uns immer sehr ermutigt, wenn Leute uns sagen, dass unser Blog ihnen geholfen hat oder ihnen gefällt oder sie zum Nachdenken gebracht hat. Das freut uns immer total und gibt uns Mut, um weiterzumachen. Also vielen Dank dafür!
Hanna:
Gerade jetzt zu zu solchen Themen Support und Unterstützung zu kriegen, das gibt dir auch Kraft, weiterzumachen. Wir haben halt manchmal einfach keine Kraft und ich glaube, dieser Zustand wird den ganzen Sommer anhalten, nach den Landtagswahlen wird die Kraft wahrscheinlich ins Bodenlose fallen -
Weronika:
Na mal schauen, wir werden sehen. Es ist noch nicht gewählt.
Hanna:
Nein, stimmt, wir wollen noch ein bisschen Optimismus haben. Aber das ist auch so dieses Wissen, dass andere Leute da draußen sind, mit denen du reden kannst: das habe ich in den zwei Tagen nach der Wahl erlebt, da habe ich sogar auf meinem Leuven-Blog noch mal einen kurzen Text dazu gepostet, weil es mir so viel gegeben hat in dieser Situation, einfach mit Leuten zu reden. Die wussten teilweise gar nicht, dass es mir so scheiße ging in dem Moment und dass es dann besser wurde, aber es waren Leute da und es ist eben nicht alles verloren. Das ist doch auch ein Bullshit-Take. Es ist nicht das Ende der Welt, es gibt Arten damit umzugehen, es gibt Wege, da Kraft zu finden und es gibt Leute, die da sind und die da bleiben werden und die auch weiter hinter dir stehen werden. Und es ist auch okay, ich glaube, das muss man vielleicht auch noch sagen, es ist auch okay, einfach nur mal frustriert zu sein, frustriert und müde und wütend und traurig. Ich glaube, gerade aus der Perspektive von ostdeutschen Jugendlichen, oder nicht nur von Jugendlichen, aber von ostdeutschen Nicht-AfD-Wähler*innen ist es wichtig, zu wissen: es ist in Ordnung, sich überwältigt zu fühlen, es ist in Ordnung, sich k.o. zu fühlen und müde zu sein und drüber nachzudenken, weggehen zu wollen, einfach, um sich mit dieser ganzen Sache nicht mehr auseinandersetzen zu müssen.
Weronika:
Oder auch einfach aus Sicherheitsgründen - das ist in Ordnung und es ist okay, es geht auch anderen so. Wir wollen schauen, dass wir vor der Wahl noch ein bisschen Content dazu liefern, was passiert wenn die AfD gewinnt, damit wir vielleicht doch noch jemanden davon abhalten können oder ermutigen können, wählen zu gehen.
Hanna:
- oder vielleicht von den Leser*innen jemanden motivieren können, selbst aktiv zu
werden, als Multiplikator.*in. Das ist auch eine Aufforderung an alle, die
zuhören: es sind nicht nur wir, die diese Sachen sagen, sondern das kann auch etwas sein, was ihr selber machen könnt, wenn es um Leute geht, die ihr kennt, die ihr liebt habt, mit denen ihr befreundet seid, was auch immer, wo ihr wisst, dass man da was sagen kann -
Weronika:
- dass man da auch mittlerweile was sagen sollte. Ich glaube, das wird schon. Es geht mir jetzt schon deutlich anders als direkt nach der Wahl, es ist doch sehr erleichternd und ermutigend, darüber reden zu können
Hanna:
Gutes Schlusswort.
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