Zu Anfang dieses Beitrags eine kleine Szenerie zum Selbst-Vorstellen. Sommer, genauer gesagt Anfang August, ein Berg, im Tal ein Dorf, auf dem Gipfel ein weißes Schloss mit Bergfried, Terrasse mit Alpenblick und Tennisplatz. Im Schlossgarten steht ein Brunnen, der allerdings nicht angeschlossen ist, im Hof Autos ordentlich aufgereiht. Wenn die Luft nicht diesig ist, sind in der Ferne weiße Bergspitzen zu erkennen, aber auch die Berge, die näher dran sind, sind schon beeindruckend genug.
Schauen wir uns das Schloss mal von innen an: Stuckverzierte Decken, geschnitztes Holz, Blattgold, zumindest in den unteren Räumlichkeiten. Weiter oben werden die Zimmer etwas karger, sind aber immer noch sehr komfortabel und meist mit schönem Ausblick ausgestattet. Die Bäder semi-modern, unvermeidlicher Schimmel an der Decke, aber alle zwei Tage werden sie geputzt, und zwar nicht von den Bewohner*innen der Zimmer. Das ganze Ambiente ist Hanni-und-Nanni-würdig und könnte durchaus den Träumen meines zwölfjährigen Ichs entsprungen sein, zumindest mit Zugabe einer Portion Magie im Internatsalltag. Wer hier allerdings lernt, das sind nicht die zauberbegabten Elfjährigen einer gewissen Coming-of-Age-Story, sondern Schüler*innen aus aller Welt, deren Lebensmittelpunkt Schloss Neubeuern heißt. Über dem Trinkwasserspender hängen Wahlplakate für das Schülersprecher*innenamt, professionell anmutend. Im sogenannten Grünen Salon des Schlosses gibt es ein Wandgemälde, welches die Kolonialisierung und Unterdrückung der amerikanischen Ureinwohner:innen sehr eindrücklich darstellt, im Raum daneben ein Bechstein-Flügel. An einer der Wände hängt eine Weltkarte mit Herkunftsländern, Afrika, Nord- und Südamerika unbesetzt, lange Listen für China, Russland und die arabische Halbinsel. Kinder in weißen Hemden mit Schullogoaufdruck, die am Summer Camp des Schlosses für potentielle zukünftige Schüler*innen teilnehmen; zu den Aktivitäten gehören Unternehmensgründungssessions und Kamelreiten. Die Verhaltensrichtlinien beinhalten die Strafform "Runden-ums-Schloss-rennen". Die Monatsgebühr der Schule beläuft sich auf ungefähr viertausend Euro. Die Alumniliste ist namhaft. Stipendiat*innen eines sogenannten Begabtenförderungswerks diskutieren in Kaffeepausen über Chemiedissertationen, künstliche Intelligenz, Finanzierungsmöglichkeiten von Forschungsprojekten in den USA, Aktienverluste und den Aufstieg der AfD. Querschnitt einer Gesellschaft.
Ich befand mich für zwei Wochen in genau diesem Schloss und damit in einer Art verschobenen Realität, in der es zu meinem Alltag gehörte, früh mit einem Kaffee auf einer Schlossterrasse zu stehen, danach drei Stunden über die Probleme der Gesellschaft zu philosophieren und Treppen zum sogenannten Ostflügel hoch- und runterzulaufen, um zu meinem Zimmer zu gelangen. Meinen zweiwöchigen Aufenthalt in diesem Schloss und damit meine hoffentlich würdigen Beiträge in meiner Arbeitsgrupppe finanzierte die deutsche Steuerzahlerin. Ich war auf einer Sommerakademie der Studienstiftung des deutschen Volkes, Arbeitsgruppe Religion and Politics - Current Controversies. Sommerakademien finden in dieser oder ähnlicher Form jedes Jahr in den verschiedensten Orten im In- oder Ausland statt - mit geringen Eigenbeiträgen und einem ordentlichen Level an studienstiftlerischem Traditionsbewusstsein. Schloss Neubeuern ist da nur ein Beispiel aus einer langen Liste von Akademieorten, einer namhafter als der andere. Jede Akademie vereint interdisziplinäre Arbeitsgruppen zu verschiedenen Themen, mit Stipendiat*innen aus allen Fachrichtungen, manchmal mit einem theoretischen, manchmal einem praktischen Fokus.
Was hat das mit Ostdeutschland zu tun? Das ist die Frage, die man sich stellen mag, und das ist auch die Frage, die ich mir aktuell stelle, während ich versuche, diesen Text auszuformulieren. Was hat eine längere Bildungsveranstaltung für Stipendiat*innen eines Studienförderwerkes mit Ostdeutschland zu tun? Ich war nicht die Einzige aus dem Osten, genauer gesagt war ich sogar überrascht davon, wie viele Teilnehmer:innen eine Verbindung in Richtung Ostdeutschland hatten - sogar einer der Leiter:innen, was in der Studienstiftung der Sichtung eines seltenen Wildtiers gleichkommt. In dieser Hinsicht scheint es eine positive Entwicklung zu geben, auch wenn Einzelfälle natürlich wenig aussagekräftig sind. Aber während ich darüber nachdenke, scheint mir meine eigene Analyse etwas inkonsequent. Zumindest ist sie nicht in der Lage, mein im Laufe des Schlosslebens immer wieder auftretendes Unwohlsein zu erklären. Ich habe das Gefühl, es sind nicht mehr - oder nicht mehr ausschließlich - die fehlenden Ostdeutschen (oder, davon mal ganz abgesehen, die fehlenden anderen marginalisierten Gruppen) in der Stiftung, die mir auffallen. Es ist auch nicht mehr unbedingt der westdeutsche Habitus, den ich bemerke, weil ich ihn nicht habe (obwohl hin und wieder durchaus Situationen auftreten, die mir mein eigenes Ostdeutsch-Sein prägnant vor Augen führen). Die Zahlen, der Habitus, das sind relevante Details, aber sie sind ein Teil des größeren Bilds, was sich auch mir nicht ganz erschließt, da ich selbst ein Teil davon bin.
Privileg lässt sich mit acht Buchstaben aufschreiben. Privileg lässt sich auch in einem zweiwöchigen Aufenthalt in einer Privatschule in Bayern erleben. Kann ich es mir erlauben, eine ominöse "ostdeutsche Perspektive" in dieser Situation zu beanspruchen? Darf ich über ostdeutsche Unterprivilegierung sprechen, wenn ich zwei Wochen meines Sommers in einem Schloss verbringe, finanziert aus Steuergeldern? Privatschulen gibt es wie Sand am Meer, Studienförderwerke auch. Ich bin absolut privilegiert, und zwar nicht nur im Vergleich mit der Durchschnittsstudierendenschaft, sondern in erster Linie im Vergleich mit meinen ostdeutschen Altersgenoss*innen. Natürlich wird im Austausch dafür auch nicht wenig von mir erwartet - Privileg mit Gegenleistung, sozusagen (wobei die Frage berechtigt ist, ob das dann überhaupt noch Privileg ist). Meine Frage an mich selbst bleibt andauernd: habe ich das überhaupt verdient? Und vor allem: habe ich es mehr verdient als die anderen? Ich habe die Chance, ein Teil von etwas zu sein, was vielen Leuten aus meiner Ostdeutschland-Bubble verwehrt bleibt. Was daraus resultiert, ist ein andauerndes Aushandeln der eigenen Identität, in beide Richtungen: Bin ich zu ostdeutsch für diese Akademie? Bin ich noch ostdeutsch genug für diesen Blog?
Diese Zweiseitigkeit wird sehr schön sichtbar in der Gegenüberstellung zweier Erlebnisse meiner letzten Wochen. Eines der ersten Dinge, die meine Zimmergenossin noch am ersten Akademietag zu mir sagte, ging in die Richtung, es wäre vielleicht seltsam, dass das noch so ein Ding sei, aber sie fände es lustig, dass ich auch aus dem Osten komme. Einer meiner anderen neu gewonnenen Akademiefreunde aus dem Osten meinte später, er hätte mich als Hanna Ossi eingespeichert. Das sind alles keine weltbewegenden Vorfälle, aber sie zeigen, dass wir uns als Ostdeutsche in einer westdeutsch dominierten Gruppe irgendwie gegenseitig finden. Diese Gespräche gingen selten von mir aus, weil ich mich vor allem in den Interaktionen mit anderen Leuten aus dem Osten immer selbst ein wenig zu Zurückhaltung zwinge. Denn natürlich ist der Osten heterogen, und natürlich will ich niemandem eine Identität zuschreiben, die für diese Person eigentlich keine Bedeutung hat, selbst wenn ich mich selbst viel mit dieser Identität auseinandersetze. Ich gebe mir alle Mühe, niemanden mit dem Thema zu überrumpeln, nur weil er oder sie zufällig auch eine ostdeutsche Biographie hat. Aber der Impuls kam in den meisten Fällen von den anderen, und das sagt schon viel.
Identität kann nicht nur von anderen bestätigt, sondern auch in Frage gestellt werden. Kurz nach Beginn der Akademie habe ich ein Foto gepostet, untertitelt mit einem vielleicht etwas passiv-aggressiven Kommentar in Richtung westdeutsche Elite im bayrischen Schloss. Vorsichtig wurde ich darauf hingewiesen, dass ich doch bitte etwas zurückhaltender damit sein solle, die Institution Studienstiftung zu kritisieren, die mir einen großen Teil meines Lebens finanziert. Darüber habe ich dann ein wenig nachdenken müssen - ist das eine berechtigte Kritik? Bin ich schon so weit ein Teil der "westdeutschen Elite", die ich eigentlich so gerne auf die Schippe nehme, dass mir die Ironie dieser Statements nicht mehr bewusst ist? Verstehe ich den Witz noch, den ich selber mache? Schulde ich der Studienstiftung und dem Schloss in Bayern eine Dankbarkeit, die es mir verbietet, allzu kritisch zu sein? Ich bin mir tatsächlich manchmal nicht ganz sicher, inwieweit ich angesichts meiner eigenen Position in der Gesellschaft die ostdeutsche Unterprivilegierung überhaupt noch nachfühlen kann. Auch wenn ich im Kontext der Studienstiftung natürlich weiterhin ostdeutsch und damit "ein bisschen anders" bleibe.
Der andere Teil der Frage, und vielleicht auch der wichtigere, ist aber dieser hier: Wo kommen wir hin mit der Debatte, wenn ich mich selbst zensiere? Institutionen wie die Studienstiftung sind keine Menschen, und ich schulde ihnen keine Dankbarkeit dafür, dass sie mich als gnädige (westdeutsch dominierte) Geldgeber unterstützen. Wem ich stattdessen die Dankbarkeit schulde, das sind die Leute, die die Gelder erwirtschaften, welche dann von der Studienstiftung verteilt werden. Aber diese Leute sind nicht die Institution, und ich darf die Institution nicht über die Leute stellen. Was im Umkehrschluss wiederum auch heißt - die Institution darf und muss kritisiert werden, sobald auch nur eine kleine Möglichkeit besteht, dass sie kritisierwürdig ist. Auch und vor allem und gerade aus dem ostdeutschen Blickwinkel heraus, für den ein Schloss in Bayern in Zahlen und Gefühl immer noch viel weiter von der Realität entfernt liegt als für den Westen. Das gilt - und damit kommen wir auch zur finalen Schlussfolgerung des heutigen Beitrags - nicht nur für die Studienstiftung, sondern genauso für zahlreiche andere Institutionen, die sich dem durchaus fragwürdigen Konzept der Elitenförderung verschrieben haben. Das gilt für alle Institutionen, die westdeutsch besetzt sind, während sie einen gesamtdeutschen Anspruch haben.
Und weil diese Verwerfungslinien nach wie vor zu oft zwischen west- und ostdeutscher Seite verlaufen, weil "Elite" ein westdeutsch geprägtes Konzept ist und weil ich das Recht habe, mich für eine bessere Repräsentation meiner Altersgenoss*innen aus dem Osten einzusetzen und gleichzeitig die Idee "Elite" in Frage zu stellen, werde ich auf absehbare Zeit zu diesem Thema auch nicht die Klappe halten.
Hanna
Kurzer Nachtrag, um den Spaßfaktor des Textes ein wenig zu erhöhen: Mein Top-Westdeutschland-Erlebnis auf dieser Akademie war der erste Abend, an dem von der Leitung darauf hingewiesen wurde, dass altbekannte und durchaus beliebte Studienstiftungs-Akademie-Flirtprogramme doch bitte zu unterlassen seien. Man wolle ja Anschuldigungen einer "Eliten-Reproduktion" vermeiden. Ich lachte, der Saal lachte, die Stuckverzierungen an der Decke lachten.
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