Miteinander-Sprechen. Ein Plädoyer zum 3. Oktober.

Wir schreiben das Jahr 2024. Die friedliche Revolution jährt sich zum fünfunddreißigsten Mal, Steffen Mau tourt das Land und informiert die Leute darüber, warum der Osten nach wie vor anders bleibt. Unser Standort für den diesjährigen Tag der deutschen Einheit ist Berlin, genauer gesagt das sogenannte Humboldt-Forum. Auferstanden aus Ruinen ist es, dieses Gebäude, ein Nachbau des alten Berliner Schlosses, auferstanden scheinbar hauptsächlich deswegen, um den Eindruck zu erzeugen, es sei nie weg gewesen. Ein Prunkbau, architektonisch offenbar inspiriert von den letzten zwei der drei "deutschen Reiche", und dementsprechend auch größtenteils ziemlich hässlich (Achtung, persönliche Meinung.). Es wird nicht ganz klar, was der eigentliche Sinn dieses Wiederaufbaus war - will hier jemand die Vergangenheit ausradieren oder sie in einer etwas befremdlichen "Wir meinen es ja nicht so"-Attitüde wiederauferstehen lassen? 

Mit einer Ironie, die nur die Realität selbst schreiben kann, demonstriert das Humboldt-Forum im Berliner Schloss präzise und eindrucksvoll, dass die Deutschen letztendlich doch Weltmeister in der Disziplin Aufarbeitung sind. Im Erdgeschoss des auferstandenen Gebäudes befindet sich aktuell eine Ausstellung mit dem Titel "Hin und weg. Der Palast der Republik ist Gegenwart". Die Ausstellung ist von temporärer Dauer. Ihre zeitliche Begrenztheit ist wohl ihr wichtigstes Statement: alles, was aktuell Gegenwart ist, wird irgendwann vergangen sein. Es ist deshalb eigentlich nutzlos, sich über diese Vergänglichkeit zu ereifern. Falls ihr es nicht geschafft habt, den Palast der Republik live und in Farbe zu sehen, habt ihr noch bis Februar Zeit, um das Tribut zu erleben, welches ihm seine Nachfolgeinstitution zollt. Danach ist auch das Geschichte. Vielleicht kuratiert ja irgendwann jemand eine Ausstellung über die Ausstellung.

Von temporärer Dauer war passenderweise auch mein Aufenthalt in Berlin zum diesjährigen Tag der deutschen Einheit. Das Humboldt-Forum veranstaltete eine Reihe an Gesprächen, Konzertabenden und anderen Events anlässlich dieses Feiertages, von denen ich drei besuchte und mich zudem noch in die entsprechende Ausstellung begab. Eine dieser Veranstaltungen war eine Debatte mit der Soziologin Katharina Warda, dem Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann und dem Historiker Frank Trentmann zur Frage nach den Nachwirkungen von 1989. Außerdem hörte ich mir noch ein Gespräch mit Uta Bretschneider, der Direktorin des Zeitgeschichtlichen Forums in Leipzig, und dem Autor Gregor Sander an, die sich über die Vielschichtigkeit der ostdeutschen Provinz zwischen Menschen und Sexshops unterhielten. Ein Motto, was sich aus den verschiedensten Gründen für mich durch dieses Wochenende zog, war das des Miteinander-Sprechens. Menschen, die miteinander sprechen, standen regelmäßig auf meinen Tagesplänen, und ich musste darüber nachdenken, wie viele der Impulse und Gedanken, die ich aus den Events mitnehmen konnte, auch selbst etwas mit dem Miteinander-Sprechen zu tun hatten.
 
35 Jahre später, so möchte man meinen, und auf Basis derselben sprachlichen Grundlage, sollte man es gelernt haben, als ehemals geteiltes Land miteinander zu kommunizieren. Leider wäre Deutschland, 2024, wohl ein gefundenes Fressen für jede Eheberatung. Miteinander sprechen verkommt mehr und mehr zu einer Phrase, einem guten Willen, den man in der Paartherapie an den Tag legt, um zu Hause angekommen direkt wieder nur den Fernseher anzumachen. Aber was hat uns das Miteinander-Sprechen denn eigentlich zu bieten? Und wer muss mit wem eigentlich mehr sprechen?

Die Standardantwort, die man geben könnte, wäre diese hier: Die Westdeutschen sollten mehr mit den Ostdeutschen reden. Das kann man natürlich auch umformulieren - die Ostdeutschen sollten mehr mit den Westdeutschen reden. Semantisch das Gleiche, pragmatisch eher weniger. Dirk Oschmann würde wahrscheinlich nur der ersten Formulierung zustimmen, da für ihn die Diskurshoheit der Westdeutschen und allen voran ihrer Medien zu dominant ist, um ein gerechtes Miteinander-Sprechen zu ermöglichen. Gregor Sander allerdings schickt in seinem Buch "Lenin auf Schalke" einen Ossi in den Westen, um da die Westdeutschen zu inspizieren, und zwar nicht nur irgendwohin, sondern nach Gelsenkirchen, ärmste Stadt Deutschlands, dem sogenannten Osten im Westen, wo die AfD bei der diesjährigen Europa-Wahl zweitstärkste Kraft wurde. Wer redet also mit wem (nicht)? Reden die Westmedien nicht mit den Ossis, reden die Ossis nicht mit den Wessis, und redet eigentlich irgendjemand mit den Ostmedien? Wer kann sich hier wen zum Sprechen aussuchen?

Vielleicht sollten aber auch die Ostdeutschen manchmal etwas mehr mit den Ostdeutschen reden. Ostidentität, so Katharina Warda, ihres Zeichens eine Schwarze ostdeutsche Frau, Ostidentität ist homogen, und zwar sowohl in den Köpfen der Westdeutschen als auch der der Ostdeutschen. Was heißt es eigentlich, Ossi zu sein? Fahne im Garten, Simson, Arbeiterschicht, Provinz, Campingurlaub, Ostalgie, weiß? Wir Ostdeutschen haben uns das Bild unserer Gruppe selbst vorerzählt und vergessen dabei oft genug, dass es auch Formen ostdeutscher Identität gibt, die nichts mit unserer eigenen Erfahrung zu tun haben. Dazu gehört beispielsweise auch, dass People of Colour und Menschen mit migrantischen Hintergründen genauso sehr ein Recht darauf haben, die ostdeutsche Identität für sich zu beanspruchen, wie das die stereotyp weißen Ossis haben. Ostidentität kann auch heißen, Rassismus zu erleben in einer Gesellschaft, in der es immer noch weniger Schutzräume und Vernetzungsmöglichkeiten gibt als im Westen. Ostidentität kann auch heißen, dass dir deine Mit-Ossis aufgrund von deiner Hautfarbe und deiner Geschichte genau diese Identität andauernd absprechen wollen. Und genau so, wie die Wessis stereotype Ost-Bilder reproduzieren, so tut das auch die ostdeutsche Mehrheitsgesellschaft selbst. Miteinander sprechen müssten vielleicht also auch die Ostdeutschen mit sich selbst, um dem Mythos einer homogenen Ostidentität ein Ende zu setzen.

Miteinander sprechen sollten auch die Generationen. Frank Trentmann hat, ohne es zu wissen, in einer seiner Aussagen mich und meine Tätigkeit hier auf diesem Blog direkt angesprochen. Anstatt zu rebellieren, sagt er, nimmt die jüngere ostdeutsche Generation auf einmal die Position eines Sprachrohrs für ihre Familiengeschichte ein. Die Jungen sind auf einmal die, die die Herausforderungen und Traumata der Nachwendezeit ansprechen, welche ihre Eltern und Großeltern erlebt haben. Und ja, das ist so, ohne jeden Zweifel. Es passiert nicht ohne Grund, dass Gespräche über Ostdeutschland in den seltensten Fällen ohne Referenzen der persönlichen Familiengeschichte auskommen. Wir sprechen über die Dinge, über die unsere Eltern nie sprechen konnten oder sollten, über die sie gelernt haben, nicht zu meckern. Meine Eltern waren nie Jammer-Ossis; sie haben viele Dinge klaglos hingenommen und immer noch ein bisschen mehr gearbeitet, um der Instabilität zu entgehen und sich im Rahmen der Möglichkeiten ihre Träume zu verwirklichen. Jetzt stehe ich hier und schreibe diesen Blog, weil ich selber das Gefühl entwickelt habe, die Lebensleistungen meiner Eltern und Großeltern und ihren Generationen würden nicht genug gewürdigt oder überhaupt beachtet. Der Grund, warum ich das aber tun kann, ist, dass wir immer viel geredet haben. Meine Eltern haben viel erzählt und ich habe (in den meisten Fällen) zuverlässig zugehört. Vielleicht ist das auch mal ein Lob wert: die jungen Ostdeutschen, die zugehört haben und jetzt laut werden können.

Es gibt noch ein Kategoriensystem, nach dem man einordnen kann, wer vielleicht wieder mehr mit wem sprechen sollte. Für dieses Kategoriensystem war vor allem die dritte und letzte Veranstaltung bezeichnend, die ich besuchte: Nur neu gestrichen? Wie sich die ostdeutsche Provinz verändert. Laut Uta Bretschneider kann ab einer Stadtgröße von unter 100.000 zumindest nachgeschaut werden, ob es sich bei dem betreffenden Ort um einen Teil der ominösen "Provinz" handelt. Wenn man dieses Kriterium anwendet, gibt es eine lange Liste an potentiellen Kandidaten in Ostdeutschland. Der Begriff an sich stellt ein spannendes Konzept dar: Provinz, das sagen nur Städter über irgendwen anders, so zumindest Gregor Sander, der aus Schwerin kommt, was aus seiner Perspektive sicher als Provinz durchgeht, das mit knapp 100.000 Einwohner*innen allerdings fast so groß ist wie Jena und damit für mich absolut nicht mehr als Provinz zählt. Provinz ist eben auch ein Gefühl.
 
Städter hätten ein schlechtes Gewissen, meint Gregor Sander, und üben deswegen eine gewisse Nachsicht gegenüber der Provinz sowie gegenüber Menschen mit "provinziellen" Eigenarten und Ansichten. Woher kommt dieses schlechte Gewissen, frage ich mich? Warum diese Nachsicht, diese Großmütigkeit? Liegt es am insgeheim fehlenden Interesse, wird die Provinz akzeptiert, weil sie einem eigentlich egal ist? Fühlt man sich schlecht, weil die eigene urban-gepflegte Weltoffenheit und Toleranz im Konflikt steht mit dem Herab-Blicken auf den "ländlichen" Habitus, seinen Traditionen, seinen Lebensentwürfen und seinen anderen Arten von Wissen? Das Stadt-Land-Dilemma ist immer auch ein Ost-West-Dilemma. Die Provinz verbleibe laut Uta Bretschneider ungesehen im politischen Raum, sie habe niemanden, der sie adäquat repräsentiert, und die AfD sei in Kleinstädten und Dörfern oft die erste Partei gewesen, die überhaupt eine Art Interesse gezeigt habe. Das Miteinander-Reden, was in meiner eigenen Erfahrung eine Kerneigenschaft ländlichen Lebens ist, wird in der ostdeutschen Transformation auf die Probe gestellt, als die LPGs ihre Clubräume, Kinos, Gasthöfe und Kindergärten schließen und es keine etablierten Vereinsstrukturen oder Anbindungen an nahegelegene Großsstädte gibt, die einspringen könnten, weil sich nach der Wende niemand mehr verantwortlich fühlt. Gemeinwesen, welches eine Grundvoraussetzung für Miteinander-Reden ist, stirbt ab. Und aus der Stadt kommt keine ausgleichende Gerechtigkeit. Geschichte und Politik und Gesellschaft und (Hoch)Kultur finden in Städten statt und werden in Städten geschrieben, und damit primär in Westdeutschland. Aber wer hat eigentlich festgelegt, dass Geschichte und Politik und Gesellschaft und (Hoch)Kultur in Städten passieren? Muss wohl ein Städter gewesen sein. Es ist jetzt also Aufgabe von allen Beteiligten, über ihre eigenen Schatten zu springen und miteinander zu sprechen und dabei nicht in falsche Gefühle der Erhabenheit des eigenen Lebensentwurfs gegenüber dem der anderen zu verfallen. Denn das können sowohl die Dörfler als auch die Städter ganz gut.

Was nehmen wir also mit aus diesem Tag der deutschen Einheit? Gregor Sander spricht von einem Miteinander-Probleme-Lösen statt einer gegenseitigen Schuldzuweisung. Auch das heißt eben Einheit: eine Paar-Beziehung, in der man nicht beim ersten Anflug von Unzufriedenheiten voreinander wegläuft, sondern sich in die Augen sieht und der anderen zuhört und die Herausforderungen gemeinsam angeht. Das ist kein neuer Ruf. In der Ost-West-Debatte kehrt die Aufforderung nach dem Miteinander-Sprechen sehr regelmäßig wieder. Wer macht es aber am Ende wirklich? Die Leute, die im Publikum oder auf der Bühne des Berliner Humboldt-Forums sitzen? Die Leute, die nie über ihren Gartenzaun hinaus blicken und sich in erster Linie für ihre eigenen Befindlichkeiten interessieren? Die Leute in den Talkshows, die Politiker*innen und Journalist*innen, die dafür plädieren, doch wieder mehr miteinander zu reden, ohne das dann tatsächlich zu tun? Die Blogautorinnen, die ihre Zielgruppe kennen, aber denen es trotzdem ein Rätsel und eine Herausforderung ist, diese zu erweitern?
 
Man will sich nicht in unbequeme Situationen begeben, gemeinsam mit Leuten, die die eigenen Werte nicht teilen und die mit einem selbst nichts gemeinsam haben. Ich selbst schreibe hier von einer Anerkennung und Wertschätzung ländlicher Kultur, lebe gleichzeitig in der Stadt und bin seit Jahren schon nur noch sehr selten ein Teil von wirklich praktizierter dörflicher Gemeinschaft, die ich eher aus soziologischer Perspektive analysiere statt sie aktiv mitzugestalten. Ich schreibe von Ost-West-Ungerechtigkeiten, erkläre den Westdeutschen gerne die ostdeutsche Welt und habe dabei wahrscheinlich schon oft genug das Narrativ ostdeutscher Homogenität reproduziert. Ich und damit auch dieser Blog hängen oft genug genauso wie alle anderen fest in einer Welt, in der wir anderen erzählen, was sie am besten tun sollten, ohne dass wir bereit wären, das Gleiche zu tun und uns den Unannehmlichkeiten auszusetzen. Was macht man dann mit einer derartig menschlichen Inkonsequenz? Wahrscheinlich einfach irgendwie weiter.

Ich würde diesen Post gerne mit zwei Beispielen von gelungener und erfolgreicher West-Ost-Kommunikation beenden. Das erste bezieht sich auf eine Dame, die in der Debatte mit Oschmann, Warda und Trentmann im Publikum saß und sich am Ende zu ihren Nachwendeerfahrungen in der Lokalpolitik äußerte. Sie erzählte davon, wie sie kurz nach 1989 Kontakt zu westdeutschen Politiker*innen ihrer Partei hatte, welche sich begeistert davon zeigten, wie sich doch innerhalb und trotz der ostdeutschen Diktatur eine derartig selbstständige Meinungsbildung hatte herauskristallisieren können, was für sie jahrelang eine Ressource von Selbstvertrauen und Zuversicht werden sollte. Abgesehen von der Tatsache, dass es einem positiven Urteil über die Selbstständigkeit deines Meinungsbildungsprozesses immer eine gewisse Unschärfe gibt, wenn es von Menschen kommt, die deiner Meinung sind, fand ich das ein sehr nettes Beispiel, vor allem, da die Dame mit dem schönen Satz endete: "Wohl dem, der am Anfang positive Erfahrungen mit Westdeutschen machen konnte."
 
Das zweite Beispiel bot sich im Kontext einer Debatte über die Rassismus-Zuschreibungen, die die Westdeutschen gerne ausschließlich an die Ostdeutschen richten. Es seien ja "immer die anderen", die aus den Plattenbauten, die bildungsfernen Schichten, die das eigentliche Problem darstellen würden. Man selbst sei eigentlich moralisch überlegen und damit in der bequemen Position, Rassismus in Westdeutschland nicht beachten zu müssen, denn das wäre ja ein Ding von "Dunkeldeutschland". Die andere Seite der Medaille ist wiederum der sogenannte "Nazi-Import", die Idee, dass viele Rechtsradikale nach der Wende aus dem Westen in den Osten kamen und dort das Problem eigentlich verursacht hätten. Erneut sind es "immer die anderen", die Ossis oder eben die West-Nazis, und man selbst bleibt schuldfrei. Letztendlich äußerte Katharina Warda als Antwort auf diese beiden Thesen zwei Sätze, die in meinem Kopf hängen blieben: "Gerade unter Rechtsradikalen hat die Wende gut funktioniert. Die haben sich gefunden."
 
Die bis heute erfolgreichste Ost-West-Kommunikation fand demnach also unter Nazis statt. Ein Armutszeugnis der Republik, ein zur Seite gezogener Vorhang vor dem Mythos der deutschen Aufarbeitungsgeschichte und eine anhaltende Motivation für uns, es besser machen zu wollen. Diese beiden Beispiele zeigen für mich auf eindrucksvolle Art und Weise, was wir zu gewinnen und zu verlieren haben, wenn wir (nicht) miteinander sprechen. In der Ausstellung zum Palast der Republik standen einige Mini-Umfragetische, bei denen man durch Abgabe von Papierschnipseln die eigene Meinung zu bestimmten Fragen äußern konnte. Bei der Frage, ob man dem Abriss des Palasts der Republik zustimmt, lag eine eindeutige Mehrheit der Zettelchen im Nein-Glas. Auf Bronzeplättchen, auf denen man mit weißer Kreide detailliert die eigene Position zum Abriss ausformulieren konnte, waren fast ausschließlich kritische Haltungen zum Abriss zu lesen. Es scheint, als hätten auch hier die Entscheidungsträger*innen mehr mit den Menschen sprechen sollen, bevor sie ihre finale Entscheidung trafen. Deshalb: Sprecht mehr miteinander. Auch, wenn es wehtut.

Hanna

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