Ich würde diesen Post gerne mit zwei Sätzen beginnen, die vielen Ostdeutschen wahrscheinlich so oder so ähnlich bekannt vorkommen dürften:
”Wir kommen zwar aus [beliebiges ostdeutsches Bundesland], aber wir haben nicht die AfD gewählt!”
“Ostdeutschland ist, wie es ist, weil [wirtschaftlicher Rückbau/fehlende Infrastruktur/Arbeitslosigkeit/Treuhand/DDR/…].”
Wenn man aus dem Osten kommt und mit Menschen spricht, die nicht von hier sind, landet man früher oder später bei diesen Aussagen. Man erklärt sich, man positioniert sich, man kann gar nicht anders. Man kommt automatisch in dieser Nach-Außen-Haltung an und fühlt sich dazu verpflichtet, irgendetwas zum Thema “der Osten” zu sagen. Dabei geht es in Gesprächen dieser Art nicht um eine Rechtfertigung von Dingen wie AfD-Wahlergebnissen im Osten, das wäre auch etwas schwierig zu bewerkstelligen. Aber es geht um Erklärung. Wir nennen Beispiele wirtschaftlicher Probleme, die im Osten existieren. Wir erzählen Anekdoten, die in unserem Kopf “die Ostdeutschen” und ihre besondere Mentalität wiedergeben. Wir machen es überaus klar, dass wir ja anders sind als die anderen (=die Rechten) im Osten.
In diesem ersten Post soll es um genau dieses Verhalten, dieses Ostdeutschland erklären, gehen. Das ist ein Thema, was mich schon länger beschäftigt, zumindest seit ich studiere und auch im Rahmen von Projekten oder Bildungsveranstaltungen mehr und mehr in Situationen komme, in denen ich die einzige oder eine von wenigen Ostdeutschen im Raum bin. Nach außen hin werden wir zu Repräsentanten Ostdeutschlands, und wir sprechen mit Nicht-Ostdeutschen komplett anders über den Osten als wir vielleicht mit Mit-Ossis reden würden. Wir geraten in eine Art Verteidigungsposition, die aber nicht wirklich funktioniert, weil wir eigentlich gar nicht verteidigen wollen. Wir bauen unser Verhalten und unsere Aussagen danach auf, möglichst wenig die typischen Ost-Stereotype zu bestätigen, wollen Weltoffenheit, Demokratieverständnis und Bildung demonstrieren.
Es sind nicht nur die Wahlergebnisse im Osten, von denen man sich bewusst distanziert. Während im Westen beispielsweise Traditionalität und Regionalität in meiner Erfahrung stärker verbunden sind mit Stolz auf die Heimat (der auch positiv gesehen wird), würde ein Ostdeutscher, der stolz auf Lokaltraditionen ist, schon viel eher davon ausgehen, vom Gegenüber als falsch wählende Person wahrgenommen zu werden, wenn man zu viel von diesem Stolz an den Tag legt. Mir persönlich fällt es beispielsweise leichter, internationalen Kommilitonen enthusiastisch oder nostalgisch von Traditionen zu erzählen, die in meiner Heimat praktiziert werden, als mit neuen westdeutschen Bekannten: eben weil ich dabei viel weniger das Gefühl habe, im besten Fall als Hinterwäldlerin aus Dunkeldeutschland und im schlimmsten Fall als semi-rechts aus dem AfD-Kaff verortet zu werden. Das ist auch eine interessante Dynamik: Man rechnet mehr mit innerdeutschen als mit internationalen Stereotypen.
Dieser kategorische Abgrenzungszwang nach rechts ist aber nicht nur für uns Ostdeutsche anstrengend und teilweise nervig. Es schürt auch weiter die Außenwahrnehmung des Ostens als einem Ort, der gesellschaftlich komplett zerrissen ist und in dem Demokratie nicht (mehr) funktioniert. Dabei gibt es damit gleich mehrere Probleme: Erstens ist das nicht der Fall, in Ostdeutschland haben wir genauso wie überall sonst Zusammenarbeit, Bürgerinitiativen, demokratische Bewegungen und -kulturen. Diese zu übergehen finde ich persönlich durchaus schade, da sie es wert sind, im öffentlichen Diskurs über den Osten besprochen zu werden. Zweitens werden wir die Gesellschaft nicht demokratisieren durch ein simples: “die sind Nazis, aber wir nicht!” (und das ist eben nicht nur relevant für die ost-, sondern auch für die gesamtdeutsche Gesellschaft. Man muss den Satz nur ergänzen durch ein “die im Osten”). Abgrenzung ist wichtig, aber keine Alleinlösung, wenn die Zahl der Leute, von denen man sich abgrenzen will, mehr und mehr zunimmt.
Ostdeutsche können also mehr, als nicht-rechts zu sein. Warum dann die Erwartungshaltung oder auch das Selbstverständnis, dass mit jedem “Ich komme aus dem Osten” auch ein “Aber ich bin (nicht) das und das” einherzugehen hat? In meiner persönlichen Erfahrung hat sich umgekehrt noch nie ein Westdeutscher dazu angehalten gefühlt, seine Herkunft zu nennen und dann direkt zu einer Erläuterung überzugehen, warum man für diese und jene politische Verfehlung der Heimat eben nicht verantwortlich ist.
Unsere Leserschaft könnte jetzt natürlich auf die Idee kommen: Wartet mal, ist das nicht aber genau das, was ihr hier auf diesem Blog machen wollt? East-plaining, also aus ostdeutscher Perspektive die Welt erklären (oder es zumindest versuchen)? Warum schreibt ihr erst einen Blog und macht euch sogar die Mühe, einen Instagram-Account zu erstellen (für die, die ihn noch nicht gefunden haben, hier der Link), nur um uns dann im ersten Beitrag mitzuteilen, dass ihr es satthabt, als Ostdeutsche Ostdeutschland erklären zu müssen?
Dort ist das Stichwort: “müssen”. Das, was wir hier machen, geht als Spaßprojekt im Internet durch, was wir betreiben, weil wir Lust darauf haben und es für wichtig halten. Die Tatsache allerdings, dass man als nicht-AfD-wählender Ostdeutscher im Gespräch mit Westdeutschen keine zwei Sätze reden kann, ohne mehr oder weniger beiläufig ins Gespräch einzustreuen, dass man ja nicht die AfD gewählt hat und auch sonst ein guter Mensch ist, ist an sich schon ein Symptom des bis heute unausgeglichenen Machtungleichgewichts. Wir sollten uns nicht dafür entschuldigen müssen, aus dem Osten zu kommen. Wir sollten uns auch nicht dazu verpflichtet fühlen müssen, im Zusammenhang mit unserer Heimat unseren Wahlzettel zu beschreiben. Und wir sollten vor allem nicht dazu angehalten sein, in jedem Gespräch über den Osten eine Liste an Gründen aufzuzählen, warum der Osten “ist, wie er ist”. Das greift zu kurz. Leute aus Ostdeutschland sind keine Botschafter einer anderen Spezies, die beim Kontakt mit der BRD-Normalbevölkerung erst mal die komplette Ost-Evolution seit der Wende erklären, um sich verständlich zu machen.
Deshalb: Ja, wir wollen erklären und ja, wir wollen das als Ostdeutsche tun. Aber nicht, weil wir es als unsere Pflicht sehen. Wir wollen deshalb allen ostdeutschen Lesern sagen: Wenn ihr diese Situationen kennt, wenn ihr auch schon mal in Erklärungsnot geraten seit, wenn ihr glaubt, euch für den Osten rechtfertigen zu müssen: Ihr habt diese Pflicht ebenfalls nicht. (Und an alle westdeutschen Leser: Es kann auch eine Kunst sein, Gespräche mit Leuten von hier nicht ab dem dritten Satz auf die ach so “dramatischen Wahlergebnisse” oder die “unverbesserlichen Querdenker” abdriften zu lassen 😄. Glaubt mir, diese Themen kennen wir gut genug.)
Falls es euch schon mal ähnlich ging oder ihr Gedanken zu diesem Thema habt (egal, aus welcher Perspektive), lasst uns gerne einen Kommentar da!
Hanna
Ich bin in Ostdeutschland geboren und wohne und studiere jetzt auch hier. Genau das, was du beschreibst, geht mir sogar so bei Personen, die aus dem Westen in den Osten ziehen. Ich habe teilweise das Bedürfnis vor ihnen zu betonen, dass ja nicht alle Leute hier rechts sind und dass es ja viel mehr gibt als dieses eine Bild. Ganz im Sinne: "Keine Angst, es ist gar nicht schlimm hier. Zumindest meistens nicht!" Es ist nicht hauptsächlich ein Mich-Erklären als viel mehr ein Mich-Abgrenzen oder Uns-Abgrenzen, weil es leider immer wieder Aspekte gibt, die das nach meinem Gefühl nötig machen.
AntwortenLöschenHey, vielen Dank für unseren ersten Kommentar :) Absolut, das würde ich genau so unterschreiben. Einerseits finde ich es sehr wichtig, sich zu positionieren, vor allem gegen rechts und in unserer heutigen Gesellschaft. Andererseits ist es wirklich schade, dass der Osten so oft nur noch als AfD-Hochburg und nichts anderes wahrgenommen wird, teilweise auch von uns selbst, wenn wir mit Leuten aus dem Westen darüber reden. Ist ein schwieriges Thema!
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