Jeder Satz kann
unterschiedlich gedeutet werden. So auch dieser. „Jetzt ist mal gut!“ Das sagte
Dirk Oschmann am 26. Juni in seiner Lesung in Jena, die ich besucht habe. Er
bezog sich dabei auf seine Begründung, das Buch „Der Osten – eine westdeutsche Erfindung“ zu schreiben, „weil ich einmal zu oft zum Ostdeutschen gemacht
wurde.“ Aus dem Publikum folgten energische Bekundungen der Zustimmung. Anscheinend
traf dieser Satz einen Nerv: So viele der Anwesenden hatten an irgendeinem
Punkt in ihrer Laufbahn, möglicherweise auch ihr ganzes Leben lang, das Gefühl
vermittelt bekommen, OSTdeutsch zu sein und damit „nicht normal deutsch“. Aber
mir ist auch aufgefallen, dass das Publikum mehrheitlich aus Menschen bestand,
die das 60. Lebensjahr überschritten hatten – vielleicht sogar das 70. Als drei
Studentinnen, die wir dort saßen, bildeten wir eine ganz klare Minderheit. Und
da erinnerte ich mich daran, dass viele den Ausspruch „Jetzt ist mal gut!“ in Bezug
auf die Ost-West-Thematik völlig anders deuten würden. Nämlich im Sinne von „Reicht
jetzt aber auch mal mit dem Gejammer der Ossis, worüber beschweren die sich
nach über 30 Jahren eigentlich noch?“
Schon
interessant, wie weit die Sichtweisen hier auseinandergehen. Dabei ist klar erwiesen,
dass es sich beim Gefühl ostdeutscher Benachteiligung nicht um eine allein
subjektive Einschätzung handelt, sondern um ein Resultat harter Fakten. Den
Ostdeutschen wird gesagt, sie sollten endlich aufhören zu jammern, sie seien
doch gleichgestellt, die Benachteiligung sei keine Realität. Das ist die eine
Seite der Medaille. Auf der anderen Seite äußern sich solch illustre
Persönlichkeiten wie der Preisträger des Europäischen Kulturpreises für Politik
2004 und des Großen Bundesverdienstkreuzes 2011 Arnulf Baring über die Leute im Osten, mit den Worten „[…]
Ob sich heute einer dort Jurist nennt oder Ökonom, Pädagoge, Psychologe,
Soziologe, selbst Arzt oder Ingenieur, das ist völlig egal. Sein Wissen ist auf
weiten Strecken völlig unbrauchbar. […] viele Menschen sind wegen ihrer
fehlenden Fachkenntnisse nicht weiter verwendbar. Sie haben einfach nichts
gelernt, was sie in eine freie Marktgesellschaft einbringen könnten.“ (zitiert
nach Oschmann, 16. Die Aussage über fehlende "Verwendbarkeit" der Ostdeutschen im marktwirtschaftlichen System kombinierte er ironischerweise mit einer Klage darüber, dass die Menschen im Osten zu "hirnlosen Rädchen im Getriebe" abgerichtet worden seien. Da scheint wohl nur das Getriebe das falsche gewesen zu sein, für das man Rädchen brauchte.). Oder auch Armin Laschet, der Bundeskanzler werden wollte, über den Osten: „Ganze Landstriche haben nicht gelernt, Respekt vor
anderen Menschen zu haben.“ (zitiert nach Oschmann, 17).
Was denn nun? Ostdeutsche
sind gleichgestellt und sollen mal nicht jammern, aber andererseits auch ziemlich
dumm und respektlos? Schwierig.
Ähnlich
schwierig finde ich es, dass so wenige jüngere Menschen bei der Lesung in Jena
anwesend waren. Solche, die das Ende der DDR als Kinder und Jugendliche erlebt
haben, und auch ihre Kinder. Denn dass auch diese zweite und dritte Generation nicht
mit den gleichen Voraussetzungen wie ihre Altersäquivalente im Westen
aufgewachsen sind, steht außer Frage. Und doch hat sich die Tendenz
herausgebildet, das einfach zu überspielen, vielleicht, damit es nicht noch mehr
auffällt. Das sind jene Generationen, die damals ihr Studium vor sich hatten
oder den Berufseinstieg. Warum hätten sie das mit ihrem „jammern“ gefährden
sollen? Liegt darin auch der Grund, warum sich so viele Ostdeutsche ihren
Regiolekt abgewöhnt haben, wenn sie in den Westen gegangen sind? Um nicht aufzufallen?
Und auffallen konnte man nur im negativen Sinn. Auch mir wurde dieses größte aller
Komplimente bereits zuteil: „Man merkt ja gar nicht, dass du aus dem Osten
kommst!“ Über Regiolekte und ihre Diskriminierung werde ich irgendwann einen
eigenen Artikel schreiben, aber kurz dazu: Es ist unsäglich, wie negativ
ostdeutsche Spracheigenheiten wahrgenommen werden. Ich bin in Sachsen
aufgewachsen, ich weiß, wovon ich spreche. Da mein Vater aus Mecklenburg kommt,
habe ich nie sächsisch gesprochen – aber, dass dies von zahlreichen
Gesprächsgegenübern im Westen mit Erleichterung quittiert wurde, hat mich doch
erst stutzig gemacht, und dann traurig gestimmt. Leider ist es so, dass viele Ostdeutsche weiterhin das
Gefühl haben, ihre Herkunft verstecken zu müssen. Was passiert denn, wenn man
in den Westen zieht? Oft wird man erst als Nazi abgestempelt und dann wegen
seines Regiolekts ausgelacht, manchmal auch gefragt, ob man gerne Bananen isst.
Im Jahr 2023. Und um trotzdem erfolgreich zu sein, legt man alles ab, was auf
die Ostherkunft hinweist. Man passt sich an. Nein, es geht nicht darum,
Unterschiede abzulegen – dann müsste der Westen sich ja auch beteiligen. Nur
die Ostdeutschen sollen das ablegen, was nicht übereinstimmt, und sich an den
Westen anpassen. Das ist doch in einem angeblich geeinten Land mehr als
fragwürdig. Es zeigt, vor welchem weiten gesellschaftlichen Weg wir stehen.
Und deshalb
finde ich, dass jetzt nicht mal gut ist im Sinne der Leute, die nichts mehr von
der Ost-West-Thematik wissen wollen. Für mich zeugt das nur von einer verfremdeten
und einfach falschen Wahrnehmung der Realität, in der wir weiterhin leben. Womit
wirklich jetzt mal gut ist, das sind die Benachteiligung, die Ostdeutschen widerfährt,
die Diskriminierung und die herabwürdigende Art und Weise, wie man behandelt
wird, wenn man aus dem Osten kommt. Das sind die ständigen negativen
Zuschreibungen, die Klischees, das arrogante Desinteresse und das fehlende
Verständnis für solche Menschen, die sich für die tatsächliche Gerechtigkeit in
Form von Aufarbeitung des Ost-West-Problems einsetzen.
„Jetzt ist mal
gut“ der einen Seite zeugt meines Erachtens von Geschichtsvergessenheit und
-ignoranz, beides hat sich noch nie bewährt, ebenso wenig wie die Missachtung
gesellschaftlicher Missstände. Deshalb möchte ich für eine umgekehrte
Verwendung der Aussage plädieren. Jetzt ist mal gut damit, dass wir so tun, als
wäre alles in bester Ordnung.
Weronika
P.S.: Dirk
Oschmann hat sein Buch bei der Lesung als polemischen Essay bezeichnet. Das
übernehme ich gerne für diesen Artikel. Mein Ziel ist heute nicht, Lösungen aufzuzeigen, sondern das Problem zu benennen. Das sollte nämlich geschehen, bevor man mit der Lösung beginnt.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen