"ostdeutsch" - eine Identität mit Konfliktpotential?

Ich habe eine ostdeutsche Identität. So. Das ist eine für mich selbst festgeschriebene Tatsache, neben der anderen Tatsachen, dass ich auch eine deutsche, eine europäische, eine weibliche, eine Gen-Z-Identität habe. Diese Schichten an Identität schließen sich nicht aus. An ihnen ist nichts Gutes und nichts Schlechtes, sie sagen nichts aus über meinen Wert als Person, sondern nur etwas darüber, wie ich von meiner Umwelt, meiner Familie, meinen Freunden, meiner Bildung, meiner kulturellen Prägung, meinen sozioökonomischen Gruppen sozialisiert wurde. Warum ist es dann ausgerechnet der Satz "Ich habe eine ostdeutsche Identität", der in schönster Regelmäßigkeit in Frage gestellt wird?

Die eigene Identität und die anderer ist ein großes Thema, oft auch ein kontroverses. Wenn man sich selbst eine "ostdeutsche Identität" zuspricht, kann man damit rechnen, dass man früher oder später auf Menschen treffen wird, die einem diese Identität absprechen wollen - und das tun Menschen aus dem Osten genauso wie Menschen aus dem Westen. Es sind oft ähnliche Argumente, die dann kommen: Das ist doch jetzt schon über dreißig Jahre her, können wir diese Kategorien nicht mal hinter uns lassen, So trägt man doch nur noch weiter zur gesellschaftlichen Spaltung bei, und, mein Lieblingsargument, weil es sich besonders gegen die junge Generation des Ostens richtet, Ihr habt das doch alles gar nicht erlebt, das kann doch für euch gar keine Bedeutung mehr haben. Die Grundannahme ist immer gleich: Sich selbst als ostdeutsch wahrzunehmen ist negativ, nutzlos und (vor allem für die jungen Ostdeutschen) aufgrund der fehlenden Eigenerfahrung überhaupt nicht möglich.

Als junge Person aus dem Osten gehen mir viele dieser Argumente auf die Nerven, weil ich immer wieder mit ihnen konfrontiert bin, wenn ich mich als junge Frau mit Ostidentität zu irgendeinem ostspezifischen Thema äußere. Deswegen möchte ich sie heute mal ein wenig auseinandernehmen (das Wort zerlegen ist mir dann doch etwas zu aggressiv, wir wollen ja nicht die gesellschaftliche Spaltung vorantreiben). Ganz am Anfang vorweg: Mit der ostdeutschen Identität hält es sich genau so wie mit allen anderen Formen von Identität, die Menschen haben können - wo nehmen sich manche Leute das Recht her, anderen ihre Selbstwahrnehmung abzusprechen? Und warum bei aller Liebe ist euch die Selbstwahrnehmung anderer Leute so unglaublich wichtig? Ihr müsst euch nicht in eurer eigenen Identität angegriffen fühlen, weil ich mich so und so identifiziere, wisst ihr. Auch nicht, wenn es eine Ossi-Identität ist.

Das Argument der dreißig Jahre schließt da eins zu eins an. Können wir das nicht mal hinter uns lassen, fragen mich Leute, und ich sage: Warum sollten wir? Warum sollte die simple Tatsache von drei Jahrzehnten BRD im Osten eine Aussage darüber erlauben, wie sehr sich Leute noch oder wieder als ostdeutsch sehen dürfen? Mal ganz abgesehen davon, dass die wirtschaftlichen, soziokulturellen und politischen Verwerfungslinien ja immer noch deutlich erkennbar sind: wenn schon nichts anderes, sollten doch genau diese Ungleichheiten diskutiert werden dürfen. Und wir sagen doch auch keinem Menschen aus Bayern, hey, Bayern ist schon so-und-so-lange Bundesstaat in einem föderativen System, ein Großteil deiner Gesetzgebung kommt nicht von Herrn Söder, sondern aus Berlin oder Brüssel, du kannst jetzt langsam mal aufhören, dich bayrisch zu fühlen (Okay, Bayern leiht sich jetzt vielleicht etwas zu gut als Beispiel für eine allen logischen Argumenten zum Trotz andauernde Kollektividentität, aber das Prinzip ist dasselbe).

Also weiter zum nächsten Argument: die düster über allem lauernde gesellschaftliche Spaltung, die es in die Nachrichten und auch in den Eastplaining-Blog schafft, die von Sozialwissenschaftler*innen und Intellektuellen mit besorgten Blicken kommentiert und von Politiker*innen auf Wahlplakaten in Angriff genommen wird. Sich selbst als ostdeutsch zu kategorisieren wird als Wasser auf den Mühlen von wahlweise AfD, Nicht- und Protestwählerschaft oder Sensationsjournalismus gesehen. Darauf die Frage: Denkt ihr, die ihr dieses Argument anbringt, es wird dadurch besser werden, dass wir einfach nicht mehr darüber reden? Denkt ihr, es würde die Versöhnlichkeit in diesem Land fördern, wenn wir den Leuten sagen, sie sollten sich bitte nicht mehr zu ihrem Ostdeutsch-Sein äußern? Wir sollten doch mittlerweile weiter sein, als immer noch dem Gedanken anzuhängen, dass mehr Einheitlichkeit automatisch dafür sorgt, dass Menschen sich mehr einig sind. Hat bei allen anderen Formen von Identität ja auch nicht geklappt. Die Existenz des gesellschaftlichen Raumes namens Ostdeutschland wegzuschweigen könnte durchaus zu zwei mehr oder weniger vorhersagbaren Konsequenzen führen. Erstens bedeutet es, dass wir nicht mehr über spezifisch ostdeutsche Themen sprechen können (und dazu zählen unter anderem Nostalgie-Erinnerungen, Ost-West-Ungleichheiten und auch Radikalisierung). Zweitens: Die Leute, die sich schon jetzt nicht wahrgenommen und repräsentiert fühlen, werden sich noch weniger wahrgenommen und repräsentiert fühlen. Und das führt dann wiederum zu einem Phänomen, das einem vielleicht bekannt vorkommen könnte - richtig, es ist unsere gute alte gesellschaftliche Spaltung.

Drittes Argument: Ihr habt doch gar keine "richtige" Osterfahrung, ihr könnt euch also gar nicht als ostdeutsch identifizieren und auch keine validen Aussagen über den Osten treffen. Wenn ich das höre, dann macht es mich wütend. Weil es davon ausgeht, dass der Osten seine jungen Menschen nichts angeht und sie auch nicht betrifft. Der Osten, das ist nicht die DDR, meine lieben Leute. Meine Ostidentität ist nicht die meiner Eltern und auch nicht die meiner Großeltern. Meine Ostidentität betrifft die Stigmatisierung, die man von Menschen aus dem Westen erfährt. Sie betrifft die 

 Ungerechtigkeiten, die meine Generation immer noch erlebt. Und, nur zur Klarstellung: Das sage ich nicht, weil ich mich selbst ungerecht behandelt fühle. Ich kann mich nicht beklagen, ich hatte immer Eltern, die mich unterstützen konnten, ich kann studieren, was ich will, ich bin in diesem Sinne nicht benachteiligt. Aber ich schreibe das hier für alle jungen Leute meiner Generation aus dem Osten, deren Eltern ein Studium nicht unterstützen können (oder wollen, weil sie es für unnötig halten), die in wirtschaftlich brachliegenden Regionen aufwachsen, die keinen Zugang haben zu Netzwerken oder Fördermöglichkeiten, die mit Jobunsicherheit und fehlenden Perspektiven aufgewachsen sind, die in ostdeutschen Firmen unter westdeutschen Vorgesetzten arbeiten, deren Position sie nicht bekommen haben, die den Job an der ostdeutschen Hochschule nicht kriegen, weil der westdeutsche Professor seine eigenen Mitarbeiter*innen mitbringt.

Junge ostdeutsche Identität ist vielfältig. Meine bedeutet ostdeutsche Kinderbücher, die man in Erinnerung hält. Sie bedeutet "Zu DDR-Zeiten"-Aussagen von Familienmitgliedern. Sie bedeutet Nudossi, Polylux und DDR-Brötchen beim Bäcker. Sie bedeutet auch, dass ich lernen musste, meinen Großeltern keine innerlichen Vorwürfe zu machen, wenn sie mal eine Kreuzfahrt gebucht hatten, denn Reisefreiheit war und ist für sie nach Jahrzehnten harter Arbeit in einem System mit Stacheldraht an der Grenze anders wertvoll als für mich. Oder meine Verteidigungshaltung, wenn wieder irgendjemand unreflektiertes Ost-Bashing betreibt. Und diese Dinge sollen nicht zu einer Identität gehören? Es ist keine DDR-Identität, das nicht, aber es ist eine Ost-Identität, und diese dürfen die jungen Leute genauso für sich beanspruchen wie die älteren Generationen, vor allem, weil sie nach wie vor mit den sozialen und strukturellen Unterschieden leben.

Jetzt besteht die Frage: Sollten wir eine gesamtdeutsche Identität stärker fördern, die die innerdeutsche Grenze vielleicht nicht auslöscht, aber dafür vielleicht etwas schwächer erscheinen lässt? Ich denke: Solange diese gesamtdeutsche Identität aus einem System entsteht, in dem Westdeutschland die Norm und Ostdeutschland die Abweichung ist, will ich diese Identität nicht. Ich möchte ein Gesamtdeutschland, was nicht vom Westen ausgeht und den Osten in seiner Vielfalt, seiner Geschichte und seinen Erfahrungen vergisst, sondern Ost und West als zwei essentielle, gleichberechtigte Prägungen des heutigen Deutschlands ansieht. Alle anderen Formen von gesamtdeutscher Identität sind mir, um ganz ehrlich zu sein, relativ egal. Und solange sich der Westen nicht in derselben Art für den Osten interessiert, in der der Osten darauf angewiesen ist, sich für den Westen zu interessieren, wird es diese Identität nicht geben.

Jetzt zum Schluss noch etwas Food for thought: Ich selbst habe eine Ost-Identität bei mir erst wirklich wahrgenommen, als ich in Kontakt kam mit jungen Leuten meiner Generation aus dem Westen. Vorher war das für mich nie wirklich ein Thema, zumindest habe ich es nie als solches bemerkt, sondern das spezifisch Ostdeutsche in meiner Umgebung einfach so hingenommen, ohne es als etwas nicht Selbstverständliches zu sehen. Warum ist das so? Ist es eine Art Selbst-Stigmatisierung, bei der die Gruppenzugehörigkeit erst dann wirklich relevant wird, wenn man mit Mitgliedern einer anderen Gruppe in Kontakt kommt? Ist die Identität vielleicht sogar eine Unterschiedsidentität, die den Kontrast betonen soll, nach dem Motto "ich muss hier mein Anderssein verteidigen"? Vielleicht. Aber um nur eine Unterschiedsidentität zu sein, dafür ist es zu schön, immer wieder mal Leute zu treffen, die die junge Nachwuchs-Ost-Identität teilen.


Kommentare