Der Osten in Europa - ein Erasmus-Gespräch

Das Konzept Nationalstaat hat innerhalb der menschlichen Geschichte erst relativ kurz Zeit gehabt, sich zu beweisen. Der Begriff des Staates, den wir heute für selbstverständlich halten, hat sich erst im 19. Jahrhundert wirklich ausgeprägt, vorteilhafterweise parallel zu der Etablierung eines organisierten Bildungswesens. Die Geschichte von Nationalstaaten ist nie objektiv, da alle, die sie erzählen, gleichzeitig auch Teil eines dieser Staaten sind.

Ich befinde mich momentan auf dem Hoheitsgebiet eines Nationalstaats, der nicht mein eigener ist, und bin dementsprechend deutlich mehr mit meiner eigenen Subjektivität konfrontiert, als ich es zu Hause wäre. Natürlich möchte ich die Gelegenheit nutzen, um mir die großen Eastplaining-Fragen mal von außen anzuschauen. Dafür habe mir zwei meiner Erasmus-Mitstudierenden in Belgien geschnappt und mit ihnen ein kleines Gespräch geführt - über Ostdeutschland, Sozialismus, Angela Merkel und die Frage, ob ost- oder westdeutsche Fußballteams besser waren (wobei meine persönliche Expertise leider nicht ausreichte. Vielleicht kann jemand aus der Leserschaft diese Frage kompetenter beantworten). Vonne, 20, kommt aus den Niederlanden und studiert dort Liberal Arts, einen interdisziplinären Studiengang mit dem Fokus Wirtschaft. Joe, ebenfalls 20, kommt aus Großbritannien und studiert Geschichte. Schon einmal vorab möchte ich mich ganz herzlich bei den beiden für ihre Bereitschaft danken, mit mir über Ostdeutschland und Europa zu sprechen und ihre eigene Perspektive in diese sehr emotional aufgeladene deutsche Debatte einzubringen. Vielen Dank an Euch beide!

Geschichte (not) made in Germany: Darstellung und Wahrnehmung der deutschen Teilung

Man kann nicht über die heutige Gesellschaft reden, ohne ein gewisses geschichtliches Grundverständnis mitzubringen. Mein erster Fokus des Gesprächs ist also dieser: ich will wissen, was Vonne und Joe aus ihrem Geschichtsunterricht zur deutschen Teilung mitgenommen haben. Das politische System der DDR nahm in meiner Schulzeit einen nicht unbedeutenden Teil des Geschichtsunterrichts ein und ich habe mich immer gefragt, ob das daran lag, dass ich in Deutschland unterrichtet wurde - oder eben in Ostdeutschland (Leser*innen aus dem Westen: ihr seid herzlich eingeladen, zu kommentieren, wie euch das Thema DDR im Unterricht dargestellt wurde!). Die beiden sind sich darin einig, dass die Länder hinter dem Eisernen Vorhang als "one big entity", also eine große Gesamtheit, betrachtet wurden. Der Heißluftballon kommt als Thema auf, Vonne hat "Das Leben der Anderen" in der Schule gesehen, der Fokus lag für die beiden auf den wichtigen politischen Entwicklungen, nicht unbedingt auf dem täglichen Leben der Leute in den Ostblockstaaten. Die Geschichten über Systemflüchtlinge wurden besonders hervorgehoben, was ich interessant finde, denn obwohl wir diese Geschichten in der Schule und (in meinem Fall) auch zu Hause ansprachen, war es doch nie das vordergründige Thema und wir sprachen auch sehr viel differenzierter darüber. Im Westen scheint das Thema Flucht in erster Linie Ausdruck eines Systemkonflikts zu sein, in dem die Anziehungskraft von Demokratie und Kapitalismus triumphiert - für Menschen im Osten, auch für mich als Nachwendekind, war es immer auch eine Frage des Zurücklassens: ist mir politische und wirtschaftliche Freiheit wichtiger als Familie und Freunde, die dableiben?

Ich frage die beiden auch nach ihrer Wahrnehmung des zivilen Widerstands in der DDR und im Ostblock, wobei sie vor allem die Proteste in Ungarn und Tschechien als Beispiele nennen. Als wir über die Friedliche Revolution sprechen, wird mir meine eigene begrenzte Perspektive bewusst. Die Tatsache, dass das Ganze in Deutschland friedlich vonstatten ging, war das Glück der DDR-Bevölkerung. Wenn wir gemeinsam Bornholmer Straße schauten, wurden es meine Eltern nie müde, zu betonen, wie anders alles hätte ausgehen können, durch einen einzigen zu nachdrücklich ausgesprochenen Schießbefehl oder eine einzige individuelle Entscheidung. Für uns, besonders im Osten, war und bleibt es die Friedliche Revolution, aber Deutschland scheint - in meiner Wahrnehmung - unter der eigenen Geschichte manchmal zu vergessen, was die Revolution für Rumänien oder die Balkanstaaten bedeutete. Auch dafür braucht es manchmal eben einen reality check von außerhalb der deutschen Perspektive.

Als wir dann zu den Jahren nach 1990 kommen, frage ich die beiden, ob sie (bevor sie mich kennengelernt haben und ich begann, jede Gelegenheit zu nutzen, um die Worte East und West in unsere Gespräche zu integrieren) von der Deindustrialisierung und der Machtunausgeglichenheit wussten, die sich nach der Wende in Ostdeutschland abspielten. Beide verneinen, aber Vonne meint, sie wäre nicht überrascht: "Es ist nachvollziehbar, dass das Überlegenheitsgefühl des 'reichen Westens' zu einer solchen Entwicklung führen kann.". Joe fügt hinzu, der Westen habe sich selbst als Retter wahrgenommen, und ich freue mich innerlich, dass meine eigene Wahrnehmung und die vieler Ostdeutschen durch Leute bestätigt werden, die weder Ost- noch Westdeutschland in ihrer Biographie stehen haben. Der Westen als Retter des Ostens - wer wundert sich da noch über nach wie vor anhaltende ostdeutsche Benachteiligung.

"The wall is made of stronger stuff and it’s going to be a lot harder to take down than it was to put up" - die Mauer besteht aus stärkerem Material und es wird um einiges schwieriger sein, sie abzubauen, als es war, sie aufzubauen." Das ist ein Zitat aus einem britischen Zeitungsartikel vom 02. Oktober 1990, der mich in seiner Reflektiertheit und Nuanciertheit gegenüber der verschwindenden DDR und ihrer Bevölkerung überrascht hat. Westdeutsche Zeitungen, auch heute noch, können sich von dieser Art der Berichterstattung auf Augenhöhe ruhig eine Scheibe abschneiden. Der Artikel beweist auf subtile Art, dass viele Dinge im innerdeutschen Diskurs in den letzten dreißig Jahren gleich geblieben sind - genau dafür braucht es den Blick von außen: "If you want a real arsehole of a town then go to Chemnitz, I had been told in London by an East German expert who hadn’t himself been to the town." schreibt der Autor: "'Wenn du ein richtiges Arschloch von einer Stadt sehen willst, geh nach Chemnitz', das wurde mir von einem Ostdeutschland-Experten in London gesagt, der selbst nie in Chemnitz gewesen war." Chemnitz, die Kulturhauptstadt Europas 2025. Wie viele Leute im heutigen Westdeutschland haben genau solche Meinungen, Meinungen über "die Ostdeutschen", ohne wirklich mal mit Leuten aus dem Osten geredet, sie Dinge gefragt, sich in ihre Perspektive hineinversetzt zu haben?

(Wer der englischen Sprache mächtig ist oder eine Übersetzungsfunktion im Browser hat: Lest gerne mal in den Artikel rein. Eine Prognose hat der Autor allerdings falsch aufgestellt: Der Nischel in Chemnitz steht noch immer.)

A chill friend: Das heutige Deutschland von außen

Vorurteile über Deutschland sind mir in Belgien bisher nur sehr begrenzt untergekommen, was vielleicht auch damit zusammenhängt, dass ich während meines Erasmus-Semesters in einem sehr internationalen Umfeld lebe und die Leute generell sehr offen und mit viel interkultureller Kompetenz ausgestattet sind. Als Weronika in den USA war, berichtete sie in diesem Beitrag von Stereotypen über Deutschland, die primär an einem westdeutschen (und vor allem bayrischen) Bild ausgerichtet sind. Ich frage also nach Stereotypen, die in England und den Niederlanden in Bezug auf Deutschland existieren. Joe erwähnt deutsche Effizienz und zwei Automarken mit Sitz in Westdeutschland, wobei zumindest Audi immerhin in Zwickau gegründet wurde. Vonne erzählt, dass die niederländische Wahrnehmung von Deutschland grundsätzlich sehr positiv sei: Wir scheinen ein guter Nachbar zu sein, bekannt für Bodenständigkeit, Kompromissbereitschaft und den Willen, Konflikte mit Worten statt mit Aggression zu lösen (wobei ich auch sehr überrascht war, wie sehr sich das Bild Deutschlands scheinbar nicht nur in den letzten dreißig, sondern vor allem auch in den letzten siebzig Jahren geändert hat).

Als ich spezifisch nach Ostdeutschland frage, wird es mir als "weniger farbenfroh" in der Wahrnehmung beschrieben und die Stereotypen seien wohl mehr oder weniger dieselben, die auch mit allen anderen ehemaligen Sowjetstaaten verbunden sind: Frauen in Kopftüchern, Menschen, die leidenschaftslos einem trostlosen Alltag folgen. "Osteuropa" ist für beide ein Synonym für praktikable, aber leider hässliche Architektur (woraufhin ich sie erst mal nach Görlitz einlud). Die Eastern European Vibes, also die Atmosphäre eines eher heruntergekommenen, Beton-zentrierten, grauen Stils, der nicht gerade Reichtum demonstriert, scheinen noch präsent in der kollektiven Erinnerung. Gleichzeitig frage ich die beiden auch, ob sie von den anhaltenden strukturellen innerdeutschen Ungleichheiten wissen. Joe meinte, dass er die visuelle Unterscheidung zwischen Ost- und Westberlin kenne, während für Vonne im Reichtum des Ruhrgebiets (welches nah an ihrer Heimat liegt) ein Kontrast zu den östlicheren Teilen Deutschlands und dem polnischen Grenzgebiet sichtbar sei. Beide sind sich allerdings einig, dass sie von dem immer noch aktuellen Ausmaß der innerdeutschen Teilung sowohl in den Zahlen als auch "im Gefühl" nicht wirklich gewusst hätten.

Ist die deutsche Einheit eine Erfolgsgeschichte? Beide sagen Ja. Interessanterweise findet für Joe die Wiedervereinigung ihren besten Ausdruck im internationalen Erfolg von Angela Merkel, deren ostdeutsche Herkunft offenbar im Ausland fast eine größere Rolle zu spielen scheint als innerhalb von Deutschland. Frau Merkel hat ihre ostdeutsche Biographie während ihrer Regierungszeit innenpolitisch allerdings nie besonders hervorgehoben (hier ein Interview dazu) - das könnte dazu beigetragen haben, dass sie für viele Deutsche in erster Linie eine deutsche und in zweiter Linie eine ostdeutsche Kanzlerin war. Die Skepsis, die das neue System nach der Wiedervereinigung in manchen Teilen der ostdeutschen Bevölkerung hervorruft, ist den beiden neu und scheint bisher vor allem ein Problem zu sein, welches sie in der russischen post-Sowjet-Gesellschaft verortet hätten. Vonne betont das medienstarke Bild des Mauerfalls in Berlin, das im Ausland oft mit einem grenzenlosen und auch anhaltenden ostdeutschen Enthusiasmus über das Ende des Sozialismus und den Anschluss an den reichen Westen gleichgesetzt wird. Auch diese Interpretation der Geschichte ist mir von Leuten aus Westdeutschland bekannt: Warum beschwert ihr euch denn, ihr habt doch das bekommen, was ihr wolltet - volle Supermärkte und Autos ohne Wartezeit.

Ballast der Republik: Warum nicht (nur) der Sozialismus schuld ist

Europa driftet ab nach rechts. Das ist ein Phänomen, welches über den Deutschlandkarten mit dunkelblau eingefärbten ostdeutschen Bundesländern gerne mal verloren geht. Warum der Osten immer stärker rechts wählt, darüber haben wir hier schon einiges geschrieben, darüber habe ich schon ungezählte Diskussionen geführt. Es werden wirtschaftliche Probleme genannt, Abwanderung, Benachteiligung, Wut über westliche Arroganz, Enttäuschung nach dreißig Jahren Bundesrepublik, fehlende Aufstiegsmöglichkeiten, Distanziertheit von der Politik und das Gefühl, unverstanden zu sein. Vieles davon wird mit der Erklärung "Osten" abgestempelt: Der Osten sehnt sich die Diktatur zurück, der Osten hat keine Demokratieerfahrung, deswegen funktioniert es dort nicht. Und auch ich selbst stolpere gerne mal in die Falle, viel von dem, was im Osten schiefläuft, auf das Erbe der DDR und der Nachwendejahre zurückzuführen. Aus diesem Grund frage ich Joe und Vonne nach ihren Ländern und ihren Erfahrungen mit Populismus und Unzufriedenheit - und ihre Antworten fühlen sich an, als würde ich in einer Diskussion mit meinen Eltern am Küchentisch sitzen. Joe erwähnt die wachsende Ungleichheit zwischen dem Norden und Süden Englands und die einst Labour-treuen Arbeiterschichten, die eine 180-Grad-Wendung hingelegt haben und rechtsaußen wählen, weil sie eine Alternative zu ihrer für sie nicht mehr funktionierenden linken Parteitreue suchen. Bodo Ramelow könnte davon ein Lied singen. Dort, wo es einst Industrie gab und jetzt keine mehr, dort fahren Rechtspopulisten ihre Wahlsiege ein: das gilt für die West Midlands in Großbritannien genau so wie für das Lausitzer Braunkohlerevier. Die Niederlande kämpfen mit einer wachsenden Entfremdung zwischen Stadt und Land, Investitionen, die auf Städte ausgerichtet sind und einer Politik, in der alle Hauptakteur*innen aus Städten kommen, was die Dörfler sauer macht - kommt uns das nicht vage bekannt vor?

Es geht also nicht um mehr oder weniger Demokratieerfahrung, das Argument greift viel zu kurz. Die Entwicklungen in Ostdeutschland sind nur ein Teil eines breiteren Phänomens, welches europaweit die Verwerfungslinien zwischen gesellschaftlichen Gruppen aufzeigt. Und diese Verwerfungslinien verlaufen in Deutschland nun mal entlang des Grünen Bandes, welches Thüringen von Bayern und Mecklenburg-Vorpommern von Schleswig-Holstein trennt. Die vierzig Jahre DDR und die dreißig Jahre seit der Wende schärfen nur den Kontrast auf dem Foto. Die Gefühle der Rechtswähler*innen in Europa sind identisch, was es ihren Parteien umso einfacher macht, sich an eine gemeinsame Front zu stellen.

Ein Gespenst geht um in Europa, es ist das Gespenst des Populismus. "Dahinter steckt natürlich eine große Unzufriedenheit. [...] Es war das Gefühl da, die Regierung, die Verwaltung auch, ist abgehoben, die nimmt nicht mehr unsere Interessen wahr. [...] Die Regierung hat sich da zu wenig gekümmert, und da kam ein Gefühl auf, was für eine Demokratie ganz schlecht ist, nämlich das Gefühl, der Staat ist nicht mehr Teil der Gesellschaft, der wird nicht mehr von den Bürgern getragen, sondern der ist was Abgehobenes, da müssen wir jetzt einen Riegel vorschieben." Wer könnte auf Anhieb sagen, über welches Land dieser Satz gesagt wurde? Er stammt aus einer Episode des WDR-Podcasts Punkt EU über die Wahlen in den Niederlanden - aber das hätte man so nicht auf den ersten Blick zuordnen können, denn er hätte genau so auch aus einer Analyse des ostdeutschen Wahlverhaltens kommen können. Aber hier haben wir eben keine Post-Sozialismus-Enttäuschung, sondern eine gesellschaftliche Entwicklung in den Niederlanden, historisch gesehen ein Zentrum der freien Wirtschaft.

Was also lernt man daraus? Erst während meiner Gespräche mit Leuten aus ganz Europa ist mir bewusst geworden, wie ähnlich sich die gesellschaftlichen Krisen in unseren jeweiligen Ländern sind. Auch das gräbt dem "dummen Ossi"-Stereotyp das Wasser ab. Es zeigt aber auch, dass ganz Europa sich möglichst schnell eine Lösung einfallen lassen muss, einen Umgang mit und ein Ernstnehmen der Gefühle des Abgekoppeltsein von einer politischen Elite, die die Entscheidungen trifft. Kein allein ostdeutsches Problem also - mir haben diese Gespräche ehrlich gesagt ein wenig die Last von den Schultern genommen, so paradox es auch scheinen mag.

"I am from eastern Germany" oder "I am from the East of Germany"? Identität und Reflektion

Zu guter Letzt möchte ich noch ein paar Worte über Identität verlieren. Ich frage Vonne und Joe, ob sie sich selbst und ihre Länder als Teil des ominösen "Westens" wahrnehmen, dieser kulturellen, sozialen und politischen Entität, die mittlerweile in einem Zwischenstadium zwischen ausgedient und politisch zweckdienlich existiert und für Deutschland aber nach wie vor eine physische und mentale Relevanz hat. Beide sagen ja, und zwar sehr deutlich. Der reiche Westen, sagt Vonne, ist ein Teil der eigenen Identität. Joe spricht von den westlichen Werten, vom Selbstverständnis des Westens als politisch, wirtschaftlich und moralisch fortschrittlich. Ich gehe in mich und frage mich selbst: nehme ich mich als Teil des "Westens" wahr? Ich nehme Deutschland als Teil des Westens wahr, ja, das schon. Aber in meiner eigenen Identität ist er nicht wirklich präsent, und wenn, dann nur in der Form von übermittelten Werten und Normen, die in meiner Wahrnehmung mehr einen universellen als einen speziell westlichen Status haben.
 
Die Frage nach der ostdeutschen Identität sieht dabei allerdings schon etwas anders aus. Ich hatte erwartet, dass das Ostdeutsche in meiner Biographie gerade im Ausland mehr in den Hintergrund treten würde, dass ich mich im Angesicht des Alltags in einem anderen Land mehr deutsch als ostdeutsch fühlen würde. Das ist aber nicht wirklich passiert: es ist nicht gerade Deutschland selbst, welches ich vermisse, sondern es ist Ostdeutschland und, auch wenn es schwer zu fassen ist, Zentraleuropa, die Gegenden, die nicht so sehr "der Westen" sind. Die unterbewussten, nicht  greifbaren Unterschiede sind präsent, zwar auf einer kleineren Skala als die innerdeutschen Mentalitätsunterschiede, aber sie sind da. Wenn ich mich neuen Leuten vorstelle, dann ist es mir wichtig, mich selbst als Person aus Deutschlands Osten vorzustellen (und zwar nicht nur, weil sonst angenommen wird, ich käme aus irgendeiner westdeutschen Großstadt). Ich denke auch über die Repräsentation Ostdeutschlands im Ausland nach: wie viel Prozent der ost- bzw. westdeutschen Studierenden nutzen das Erasmus-Programm? Wer hat die (finanzielle) Möglichkeit, ins Ausland zu gehen, und wer entscheidet sich aus welchen Gründen dagegen? Welchen Status nimmt ein Auslandsaufenthalt in einem ost- und einem westdeutschen Elternhaus ein?
 
Bei einem Besuch im Europäischen Parlament war es genau diese Frage der Repräsentation, die mir vor die Füße fiel. Die Dame aus der EP-Kommunikationsabteilung, die uns durch das Parlament führte, war aus Bulgarien, war mit Systemkrise und Revolution aufgewachsen und machte dies in ihrem Gespräch mit uns auch sehr deutlich. Es war unschwer erkennbar, dass das Konzept von Mitbestimmung und Rechtsstaatlichkeit in der EU eine sehr viel tiefere, persönlichere Bedeutung für sie hatte. Auch das ist etwas, was gerade Menschen aus Ostdeutschland oder Mittel- und Osteuropa mit in Diskussionen hineintragen können, besser als so manche*r Westeuropäer*in: eine geschärfte Wahrnehmung dafür, dass Demokratie und friedliche Konfliktlösung keine Selbstverständlichkeit ist. Und allein dafür lohnt es sich schon, sie mit in den Dialog einzubeziehen.
 
 
Hanna

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