Kulturbanausen östlich der Elbe

Es ist eine meiner Grundüberzeugungen, dass Kunst in ihren vielfältigen Formen und Ausprägungen einen essenziellen Beitrag dazu leistet, Menschen zusammenzubringen: sie ist der Kitt der Gesellschaft, oder zumindest ein Teil davon. Wo Kunst existiert (und wertgeschätzt wird), haben Menschen etwas, über das sie sich unterhalten können, über das sie auch streiten können. Kunst hat das seltene Talent, für jeden, der sich mit ihr auseinandersetzt, etwas anderes zu bedeuten - wenn ich Bücher lese, oder Musik höre, dann verstehe ich diese nie auf genau die gleiche Art wie meine Freund*innen oder meine Eltern - aber trotzdem fühlen sich Menschen darüber verbunden. Zudem bedeutet Kunst immer auch Kontext. Wer die Erfahrungen teilt, die in Liedern besungen und in Büchern beschrieben werden, für den können diese Bücher und diese Musik auf eine Art therapeutisch wirken. Man ist nicht allein in den eigenen Erfahrungen und mit der eigenen Geschichte.

Der Osten Deutschlands hat eine abwechslungsreiche und sehr diverse Kulturszene. Teile dieser Kulturszene finden auch überregional (d.h., im Westen) Beachtung, andere werden als Ausdrucksformen regionaler Gegenkultur abgetan, die nur in genau diesem regionalen Umfeld relevant sind. Die Idee, dass Ost-Kultur nur dann wirklich zählt, wenn sie im Westen Stadien füllt, ist vielleicht etwas fragwürdig, aber das soll hier nicht Thema sein. Stattdessen möchte ich versuchen, die Bedeutung von Ost-Kunst und -Kultur für die Menschen hier zu beschreiben, so, wie ich sie selber wahrnehme. Ich würde mir wünschen, dass vielleicht die eine oder der andere eines der genannten Beispiele als Empfehlung mitnimmt und sich mal bewusst mit dem Hintergrund, dem Ost-Kontext dieser Kunst auseinandersetzt. Es ist nicht nur der Osten, der sich mit westdeutschen Lebensrealitäten beschäftigen und sich an westdeutschen Standards messen muss: das Ganze kann auch umgekehrt funktionieren.

Mit den Namen Silly, Gundermann oder Kling Klang von Keimzeit können viele meiner westdeutschen Altersgenossinnen eher weniger anfangen, da bin ich dann eher diejenige, die verwirrt angeschaut wird, wenn ich eine amerikanische Band oder einen westdeutschen Künstler mal nicht kenne. Und geht man nur nach den Plattenverkäufen, ist das ja auch irgendwo verständlich. Aber man fühlt sich trotzdem manchmal so, als ob die Musik, die einem von der ostdeutschen Familie oder Lehrer*innen mitgegeben worden ist, irgendwie weniger wert ist, weil man die “wichtigen” Leute nicht kennt. Mal ganz abgesehen davon, dass Wichtigkeit in der Kultur oft sowieso anhand von ökonomischen Aspekten statt künstlerischer Qualität definiert wird, muss ich dazu auch einfach sagen - ihr verpasst etwas. Ihr verpasst gute Musik und ihr verpasst ein besseres Verständnis für “den Osten” als heterogenen und eigenständigen Kulturraum und als Raum, in dem Menschen leben, für die diese Musik ein Teil ihres Selbstverständnisses darstellt.

Das bezieht sich auch nicht nur auf Musik aus dem letzten Jahrhundert (tut mir leid an alle höheren Semester, diese Formulierung soll keine Altersdiskriminierung sein). Einer der größten Musikexporte Ostdeutschlands der letzten Jahre ist die Chemnitzer Band Kraftklub, die in ganz Deutschland bekannt und seit 2010 aktiv ist. Die Band feiert Erfolge nicht nur in der Dresdner Neustadt, sondern füllt auch im Westen Stadien (und werden genau dieselben Fragen gefragt, wie ich, wenn ich mit westdeutschen Studienstiftler*innen rede). Wenn ich mir ihre Lieder anhöre, dann sind da so einige, die ich als Ost-Lieder einordnen würde - und ich denke schon, dass man sich selbst um Teile des Musikverständnisses bringt, wenn man den Faktor Osten aus ihrer Musik ausklammert. Das Lied Karl-Marx-Stadt spielt mit den Stereotypen über faul auf der Haut liegende, post-DDR Hartz-IV-Empfänger in den heruntergekommenen Wohnblöcken eines deindustrialisierten Ostens, kombiniert mit mehr als nur einer Prise Ost-Stolz darauf, eben nicht alles zu haben und trotzdem da zu sein und durchzuhalten - und wer ist es jetzt, der Schuld an der Situation hat, das System, was die Person im Stich gelassen hat, oder die Person, die es sich im System gemütlich macht und gleichzeitig darauf schimpft? Es wird nicht wirklich klar, und das ist es, was ostdeutsche Künstler*innen gut können: die Zwischentöne treffen zwischen der einen und der anderen Darstellung. Wittenberg ist nicht Paris, ein Song über Ex-Ossis, die ihre Heimat verlassen haben und jetzt ihre Meinungen aus dem Komfort eines reicheren Westdeutschlands abgeben können, wo sie allerdings nie wirklich dazugehören werden. Kritisiert man sie dafür oder sollte man sie eigentlich bemitleiden? Fahr mit mir, der Wunsch, abzuhauen aus einer Region, in der die Fahnen an der B96 immer zahlreicher werden, und obwohl es zu Hause ist, will man manchmal einfach alles hinter sich lassen und irgendwo hingehen, wo man nicht mehr so allein ist mit den eigenen Positionen. Das sind Ost-Emotionen eines jungen, anti-rechten Ostdeutschlands in diesen Liedern, und das ist auch Teil der Erklärung dafür, warum so ungefähr jede Person aus meinem ostdeutschen Bekanntenkreis, die sich irgendwo links von CDU und AfD einordnet, bei Kraftklub-Konzerten zu finden ist (alle, die am 2. September in Dresden waren, heben mal die Hand).

Die Bedeutung von dieser Art von Musik ist gleichzusetzen mit der Bedeutung, die die ältere Generation Ost-Rock für den früheren Osten hatte. Junge Leute fühlen sich verstanden, können ihre Wut irgendwo hinausschreien und haben gleichzeitig ein Netzwerk, das ihnen zeigt - ihr seid eben nicht allein hier, es gibt Leute, die da herkommen, wo ihr herkommt, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie ihr. Das ist unglaublich wichtig für eine funktionierende Gesellschaft: Leute zu haben, mit denen man sich identifizieren kann. Und das funktioniert auch auf ganz anderen Wegen als mithilfe von linkem Indie-Rap: Ostalgie-Instagram-Posts, Trabi- und Simson-Memes sind auch und besonders bei jüngeren Ossis beliebt (auch wenn ich ehrlich zugeben muss, dass meine persönliche Identifikation mit meiner Heimat nur begrenzt trabi- und simsonbezogen ist). Filme wie Gundermann oder Sonnenallee sind für meine Eltern genau so wie für zahlreiche andere Leute ihrer Generation eine Reflexion ihrer eigenen (Familien)Geschichte, ihres eigenen Hintergrunds und ihres Selbstbilds. Über Lukas Rietzschel und seinen Roman Mit der Faust in die Welt schlagen kann man durchaus diskutieren - aber es ist nicht abzustreiten, dass das Buch für viele ein Spiegel war, über den sie sich und ihr Umfeld plötzlich repräsentiert sahen.

Genau dies ist wichtig: dass sich der Osten über sich selbst austauscht und - und hier kommt eben der Aspekt Verantwortung ins Spiel - dass ostdeutsche Lebensrealitäten in Form von Kunst und Kultur auch im Westen rezipiert werden. Es muss eine Auseinandersetzung auf gleichberechtigter Ebene stattfinden, und dies nicht nur auf ökonomischer, politischer und medialer Ebene, sondern auch auf einer künstlerischen. Das liegt allerdings nicht in unserer Hand, sondern in der Hand von allen Leuten aus dem Westen, die sich noch nie bewusst mit dem kulturellen Erbe der DDR und der kulturellen Landschaft des heutigen Ostens auseinandergesetzt haben. Die ostdeutsche Kunst- und Kulturszene ist sehr lebendig: informiert euch und nehmt die ostdeutschen Identitäten der Künstler*innen, die ihr vielleicht bewundert und mögt, bewusst wahr. Wenn ihr Musik von ostdeutschen Gruppen hört oder Bücher lest, deren Autor*innen eine Ost-Biographie haben: zeigt Interesse daran, anstatt diesen Teil der Kunst, die ihr genießt, als unwichtig abzutun. Kunst soll (und kann!) verbinden - und das ist es doch, was wir eigentlich wollen.


Hanna

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