Nachdem
wir am 16. November 2023 einen Beitrag zu Spezialkinderheimen
und Jugendwerkhöfen in der DDR gepostet hatten, erhielten wir viel positive
Resonanz und Interessebekundungen am Thema. Die Autorin Grit Poppe kommentierte
unseren Post auf Instagram. Sie hat gemeinsam mit ihrem Sohn Niklas
Poppe das Sachbuch "Die Weggesperrten. Umerziehung in der DDR - Schicksale
von Kindern und Jugendlichen" geschrieben, auf das wir uns in dem Beitrag
bezogen haben.
Wie ich schon im letzten Post dazu berichtet habe, halten wir solche Bücher für essenzielle Grundlagen einer historischen Aufarbeitung der Verbrechen der damaligen Zeit. Kurzerhand beschlossen wir, Grit Poppe nach einem Interview zu fragen, um mit ihr über ihre Bücher und deren Bedeutung zu sprechen, aber auch die Thematik der Jugendwerkhöfe und die Situation des Ostens und Westens in der heutigen Zeit. Sie sagte zu unserer großen Freude zu, und am 5. Januar sprachen wir - zugeschaltet aus Leuven und Görlitz - mit Grit Poppe. Bevor ihr alle in den Genuss kommt, unser ergiebiges Gespräch persönlich nachzulesen, kurz ein paar Fakten: Grit Poppe wurde am 25. Januar 1964 in Boltenhagen (Ostsee) geboren und feiert damit am Veröffentlichungstag dieses Blogbeitrags ihren 60. Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch! Sie durfte zu DDR-Zeiten kein Abitur ablegen, besuchte das Literaturinstitut in Leipzig und schrieb seit ihrer Kindheit an Geschichten und Erzählungen. Sie hat viele Kinder- und Jugendbücher, Romane für Erwachsene und ein Sachbuch veröffentlicht, schreibt aber vor allem Bücher über die DDR-Zeit, darunter solche, die sich mit dem Thema der Jugendwerkhöfe auseinandersetzen. Auf ihrer Website findet sich eine kurze, sehr lesenswerte Biografie, die ich leider erst im Nachgang entdeckt habe - sonst hätte ich Grit Poppe auf mein, Hannas und ihr gemeinsames Hassfach Sport angesprochen.
Weronika: Wir beginnen mit einer ersten Frage: Was
ist Ihr Wunsch für das neue Jahr 2024?
Grit
Poppe:
Dass es friedlich bleibt in Deutschland, und es dort, wo es Krieg gibt,
friedlich wird. Das ist, glaube ich, das Wichtigste.
Hanna: Eine Standardfrage, die Sie
wahrscheinlich auch oft gestellt bekommen. Warum machen Sie das, was Sie
machen?
Grit
Poppe: Naja,
ich interessiere mich selbst für Aufarbeitungsthemen. Wenn mit der Frage
gemeint ist, warum ich mich mit den Geschehnissen in den Jugendwerkhöfen der
DDR befasse – das begann ja eigentlich, als ich für „Weggesperrt“ recherchiert
habe. Und als ich angefangen habe zu recherchieren, wusste ich ja noch gar
nicht, was daraus wird. Ich hatte halt so eine Grundidee für diesen Jugendroman
von der Mutter, die sich in der DDR nicht anpasst und in Haft gerät. Was
passiert dann mit der Tochter, wenn der Vater nicht da ist? Das war die
Grundidee. Diese Verfolgungsgeschichte durch die Stasi hatte ich da auch schon
im Kopf, weil ich als Kind und Jugendliche ähnliches selbst erlebt habe. Mein
Vater war in der Opposition zum Staat, hat also mit anderen zusammen eine
Gruppe gegründet, die Initiative für Frieden und Menschenrechte. Das heißt, er
hatte die Stasi am Hacken, und damit war ich mit betroffen, denn beispielsweise
bei Observierungen auf offener Straße wurde ja keine Rücksicht genommen, ob ein
Kind dabei war oder nicht. Ich wollte eigentlich einen Jugendroman schreiben,
in dem deutlich wird, was der Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie ist.
Und ich dachte, ich schreibe mal ein Buch über Diktaturerfahrung. Und dass es
dann der Geschlossene Jugendwerkhof Torgau wird als Thema - das war mir am
Anfang nicht klar.
Also zuerst habe ich dann einfach gegoogelt nach „Heim
DDR“ und dann kam sofort der GJWH Torgau mit diesen Bildern, mit dieser Mauer,
dem Gefängnisgebäude und diesen Gittern und Zellen und so weiter. Und ich habe
erst gedacht: Nein, das kann nicht sein. Ich habe es im ersten Moment nicht
geglaubt. Dann habe ich aber mitbekommen, da ist doch was dran. Also bin ich
dann nach Torgau gefahren, ziemlich schnell auch, und habe dort mit einer
Mitarbeiterin der Gedenkstätte gesprochen. Sie hat mir auch gleich alles, was
die so hatten, zur Verfügung gestellt, auch ein paar Akten, die von Betroffenen
freigegeben wurden, die ich am Ort des Geschehens lesen konnte. Sie hat mir
auch ein paar Sachen erzählt, die für mich schon ziemlich erschreckend klangen.
Mich hat auch erschreckt, dass ich davon gar nichts wusste. Diese Mitarbeiterin
hat mir dann so die ersten Zeitzeugenkontakte vermittelt. Das waren dann ein
Zeitzeuge und eine Zeitzeugin aus Berlin. Und dann habe ich angefangen, mich
mit denen zu treffen und habe dann gemerkt: das ist jetzt kein Thema für eine
Stunde Interview. Also wir haben uns sehr viel Zeit gelassen und uns immer
wieder getroffen. Dabei haben wir auch erst allmählich über Torgau dann
geredet, nicht gleich am Anfang. So habe ich mitgekriegt, dass diese beiden
schwer dran zu knabbern hatten; dass sie das immer noch schwer beschäftigt und
auch in ihrem heutigen Leben beeinträchtigt. Ja, das hat mich dann doch
ziemlich fassungslos und auch wütend gemacht. Und je mehr ich dann darüber
erfahren habe, umso wütender wurde ich. Und dann habe ich mich eigentlich
hingesetzt mit dieser Wut im Bauch und habe angefangen, Weggesperrt zu
schreiben. So fing das eigentlich an. Als das Buch dann da war, habe ich auch
Lesungen mit Zeitzeugen gemacht. Das habe ich den Schulen auch angeboten, zum
Beispiel in Baden-Württemberg, wo „Weggesperrt“ Schullektüre wurde für die
Realschulen der zehnten Klasse. Die Schulen haben sich fast alle darauf
eingelassen und nicht nur mich, sondern auch einen Zeitzeugen oder eine
Zeitzeugin eingeladen. Das hat mich erstaunt und auch erfreut. Wir sind also
meistens zu zweit herumgefahren, quer durch Baden-Württemberg, von Schule zu
Schule. Und ich habe natürlich die Geschichten der Zeitzeugen dann immer besser
kennengelernt. So nach und nach kamen dann auch einige Sachen zum Vorschein,
die sie mir wahrscheinlich in so einem ersten Interview nicht erzählt hätten.
Ich bin dann immer tiefer eingestiegen in die Materie. Es haben sich auch
Freundschaften dadurch entwickelt, und dann kriegt man natürlich einiges auch
besser mit, also auch die Probleme, die sie heute haben. Ja, so kam das
eigentlich, dass mich das auch nicht loslässt. Denn mich haben auch im
Nachhinein, als „Weggesperrt“ und auch „Abgehauen“ erschienen sind, einige
angeschrieben oder angerufen, die selbst im Jugendwerkhof oder in Torgau waren
und ihre Geschichte erzählen wollten. So kam dann eben irgendwann auch die Idee
zu dem Sachbuch „Die Weggesperrten“, also die Idee, dass man die Geschichten
der Betroffenen eigentlich mal aufschreiben sollte.
Wir empfehlen allen unseren Leserinnen und Lesern die Bücher von Grit
Poppe. Sie erzählen auf eindrückliche Weise von den Geschehnissen in Torgau und
können dabei helfen, das Thema besser zu verstehen. Setzt euch damit
auseinander, erzählt anderen davon! Nur durch Aufarbeitung kann diese
schreckliche Vergangenheit bewältigt werden. Wir alle können unseren Teil dazu
beitragen, indem wir nicht gleichgültig sind und uns damit befassen. Aus der
Geschichte kann nur lernen, wer sie auch kennt.
Weronika: Ja, ich finde das sehr spannend, denn
Hanna und ich sind ja beide Anfang der 2000er geboren und mir haben die Bücher
sehr geholfen, das Thema überhaupt zu verstehen. Was glauben Sie, was Ihre
Bücher für eine Rolle spielen bei der Möglichkeit, dass man das Geschehene
aufarbeiten kann?
Grit
Poppe: Ja,
das müssen eigentlich die Leserinnen und Leser beantworten, also was sie mit diesen
Geschichten anfangen. Aber ich habe auch gemerkt, dass das in den Schulen zum
Beispiel doch gut ankam und die Schüler auch bewegt hat, dass die das nicht
kalt lässt, obwohl Baden-Württemberg ja weit weg ist vom Osten. Es hat sicher
auch geholfen, da einen Zeitzeugen oder eine Zeitzeugin mitzunehmen, dass die
Jugendlichen auch begriffen haben, dass das nicht einfach eine ausgedachte
Geschichte ist, sondern eben tatsächlich passiert ist, also ungefähr auch wie
in „Weggesperrt“. Was für mich auch interessant war, war, dass viele Betroffene
mir gesagt haben, dass ich eigentlich ihre Geschichte geschrieben
hätte, auch die, die ich noch gar nicht gekannt hatte, weil die tatsächlich
alle Ähnliches erlebt haben, weil dieses Prinzip der Umerziehung immer das gleiche
war, von 1964 bis Ende 1989. Dort in der Disziplinareinrichtung in Torgau lief
das immer gleich ab: mit diesem wie Gefangene dort abgeliefert werden und
stundenlang im Flur stehen, ohne etwas sagen oder fragen zu dürfen und dann
diese Gewalt am Anfang, wenn der oder die Jugendliche doch etwas gesagt oder
gefragt hat, wurde das oft sofort mit Tritten und Schlägen bestraft. Darauf
folgte bei allen die gleiche Einweisungsprozedur: Leibesvisitation, die Haare
wurden abgeschnitten, das Duschen und die Desinfektion unter
Aufsicht und der Einzelarrest in einer Zelle, in der es nur eine
Holzpritsche, die tagsüber hochgeklappt wurde, einen Hocker und einen Eimer für
die Notdurft gab, das war bei allen das Gleiche. Insofern haben viele sich da
in der Geschichte von „Weggesperrt“ wiedererkannt. Ich habe auch zwei Mal
jeweils eine Frau nach Torgau begleitet, als sie das erste Mal dahin gefahren
sind, um ihre Aufarbeitung abzuschließen. Die eine Betroffene hatte,
„Abgehauen“ ihrer neuen Therapeutin gegeben. Sie kannte die
Therapeutin noch nicht so gut und hat ihr einfach das Buch gegeben und gesagt:
was da am Anfang in dieser Dunkelzelle passiert ist, das ist ihr genau auch so
passiert. Die Therapeutin wusste dann schon Bescheid und ist mitgekommen nach
Torgau. Das ist also dann eine praktische Form von Aufarbeitung, wo man dann
auch den Betroffenen vielleicht ein bisschen helfen kann.
Weronika: Wissen Sie ungefähr, wo Ihre
Leseranteile größer sind, ob das im Osten doch noch mehr auf Interesse stößt,
oder ob das sich relativ gleich verteilt?
Grit
Poppe: Ich
vermute fast, dass „Weggesperrt“ mehr im Westen gelesen wird, dadurch, dass es
eben in Baden-Württemberg Schullektüre war und da wurde das flächendeckend
gelesen. Seitdem haben die Lehrer das offenbar auch im Programm mit drin, ich
kriege das hin und wieder mal mit, wenn ich irgendwie angeschrieben werde von
Schülerinnen, dass sie irgendwelche Fragen haben – dann ist es eher aus dem
Westen. Im Osten ist es so, dass es auch hin und wieder in einzelnen Schulen
gelesen wird, aber das hängt dann eher von den Lehrern ab und weniger vom
Bundesland.
Hanna: Denken Sie, dass ihre Bücher für junge
Leute in unserem Alter vielleicht auch als Augenöffner dienen können, für
Leute, die jetzt vielleicht keine oder keinerlei persönliche Berührungspunkte
mit dem DDR-System hatten und es vielleicht dementsprechend ein bisschen
glorifizieren? Den Eindruck habe ich bei meiner Generation tatsächlich hin und
wieder mal, gerade mit Leuten, die aus dem Westen kommen, keinerlei
Berührungspunkte damit haben, dass aber dann eben doch so ein bisschen
Romantisierung stattfindet. Denken Sie, dass Ihre Bücher da einen Effekt haben
können?
Grit
Poppe: Ja,
das hoffe ich doch, das war schließlich auch mit Antrieb – also
zunächst „Weggesperrt“ und später die anderen Romane zu schreiben. Mein Sohn
war damals in der 10. Klasse und hat seine Kumpels immer mit zum Feiern
hergebracht und dann waren eben auch welche dabei, die bei der Antifa waren und
die DDR so ein bisschen glorifizierten, dass da ja alles billiger gewesen wäre,
die Mieten und Lebensmittel, das Bier und so weiter. Ja, dann habe ich
natürlich angefangen, mich mit denen ein bisschen zu - streiten
vielleicht nicht, aber mit denen zu reden und dachte, ja, okay, das reicht
wahrscheinlich nicht. Insofern war das auch mit Antrieb, diese Bücher – also
die Jugendromane „Weggesperrt“, „Abgehauen“, „Schuld“ und „Verraten“ – letzten
Endes zu schreiben, um gerade auch die jüngere Generation da ein bisschen
aufzuklären und vielleicht auch mal ein bisschen zu wecken, denn viele wissen
gar nicht, was los war in der DDR und es kommen ja immer mal wieder so einzelne
Geschichten hoch. Aber dass die Bevölkerung wirklich aufgeklärt ist, kann man
nicht behaupten, weder im Osten noch im Westen.
Weronika: Wie sieht das aus mit dem Kontakt zu
Schriftstellerinnen und Schriftstellern in Deutschland? Spielt das irgendeine
Rolle, dass man sich mit so einem spezifischen Thema befasst, das ja noch nicht
so lange zurückliegt und das von der Gesellschaft noch nicht so aufgearbeitet
ist?
Grit
Poppe: Ich
kenne natürlich andere Autorinnen und Autoren, hauptsächlich dadurch, dass man
gelegentlich gemeinsame Leseprojekte und Literaturtage, beispielsweise in
Schulen, veranstaltet. Dadurch kenne ich ein paar, aber dass wir uns über Inhalte
unterhalten, ist eher wenig, würde ich mal sagen. Da trifft man sich vielleicht
abends auf ein Bier oder geht zusammen essen und da redet man eigentlich
weniger über eigene Bücher. Das ist eher verhalten, dieses Interesse, würde ich
mal sagen.
Hanna: Und wie schätzen Sie die Literaturszene
für Jugendliche in dem Themenbereich ein, vielleicht auch, was Sachbücher und
Bildungsmaterial angeht? Gibt es da genug, sollte es da mehr geben, um die
Themen der jungen Generation näher zu bringen?
Grit
Poppe: Es
kann ruhig noch mehr geben, vorausgesetzt, es ist gute Literatur und spricht
die Leserinnen und Leser an. Ich glaube nicht, dass das jetzt alles
abgeschlossen und aufgearbeitet ist, man kriegt ja hin und wieder mit, eher
durch Dokumentarfilme als durch Bücher, dass da mal wieder mal ein neues Thema
hochkommt und dann aktuell wird, manchmal auch durch Bücher, klar. Ich habe
auch schon häufiger das Feedback bekommen, dass meine Bücher dabei geholfen
haben, das Thema besser zu verstehen.
Weronika: Wie ist die Aktenlage von der
Täterseite, von Torgau beispielsweise?
Grit
Poppe: Es
gibt keine Akten über Erzieher, jedenfalls wüsste ich von keinen. Allerdings
sind diese Torgau-Akten über die Jugendlichen zum großen Teil erhalten
geblieben und dort sind auch die Erzieher mit Namen vermerkt. Die haben ja
selber aufgeschrieben, wenn sie die Jugendlichen beispielsweise in eine
Arrestzelle gesteckt haben, auch den Grund, das Datum, die Uhrzeit, das steht
alles drin in diesen Akten. Insofern weiß man auch, was einzelne Erzieher da
gemacht haben – mal abgesehen von den Verbrechen, die da auch passiert sind,
beispielsweise Vergewaltigungen. Die stehen da natürlich nicht drin, aber diese
normalen Arreststrafen schon.
Hanna: Was müsste da aus Ihrer Sicht zur
Aufarbeitung dieser ganzen Thematik noch mehr passieren, gerade auch von
staatlicher Seite?
Grit
Poppe: Ich
würde mir wünschen, dass zum Beispiel dieser Direktor Horst Kretzschmar, der ja
da bis April 89 als Leiter in dem Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau gearbeitet
hat, genauer unter die Lupe genommen wird. Das ist überhaupt noch nicht
aufgearbeitet, man hat nur einige Eckdaten und ein, zwei Bilder. Und der hat da
aber doch ziemlich viel angerichtet, auch dieses Erziehungsprinzip
durchgesetzt. Die anderen Erzieher haben das gemacht, was er wollte. Da wünsche
ich mir Forschung zu ihm.
Hanna: Ich habe das Gefühl, dass es mit eine
Rolle spielt in dieser Problematik, dass eben sehr verdrängt wird. Das kann ich
jetzt aus unserer Generation, unserer Perspektive sagen, wir haben viel über
die DDR geredet, wir haben auch in der Schule viel dazu gemacht, aber zu diesem
konkreten Thema der Jugendwerkhöfe hat immer was gefehlt.
Grit
Poppe: Ja,
das wurde ja auch hier im Osten als Thema lange übersehen, weil nach der Wende
erstmal andere Dinge wichtig waren, zum Beispiel diese ganzen
Stasi-Geschichten. Ab Januar 1992 konnten die Leute Akteneinsicht beantragen,
wo die Menschen, die von der Staatssicherheit bespitzelt und manchmal auch mit
Zersetzungsmaßnahmen kaputt gemacht werden sollten, dann gesehen haben: okay,
mich hat mein Nachbar, mein Freund, mein Familienangehöriger, mein Kollege oder
sogar mein Mitschüler bei der Stasi verpfiffen. Das war erstmal wichtig. Was da
in der Jugendhilfe passiert ist, das hat zunächst niemanden interessiert
– also außer die Betroffenen selbst vielleicht, aber die haben eher,
glaube ich, auch verdrängt, was da passiert ist. Und dann gab es ja auch diese
üblichen Vorurteile – wer im Jugendwerkhof war, der muss schon irgendwas
angestellt haben, die war nicht umsonst da, das hört man bis heute. Da ist
wenig Empathie, und Wissen sowieso nicht.
Weronika: Das habe ich auch teilweise wirklich in
der Schule erlebt. Wir hatten einen Geschichtslehrer, der die DDR so
dargestellt hat, als sei sie keine Diktatur gewesen. Er meinte auch, wer im
Jugendwerkhof war, der hätte da schon hingehört. Und das war 2018, 2019, das
ist Wahnsinn, wie das sich wirklich hält. Es kann aber auch sein, dass er bei
der Stasi war, er hat mal von seinen Afrika-Reisen zur DDR-Zeit erzählt…
Grit
Poppe: Ja,
also Leute, die ins Ausland fahren durften, also ins westliche Ausland, ja, die
hatten meistens mit der Stasi zu tun und/oder waren systemtreue SED-Genossen,
das ging gar nicht anders.
Weronika: Ja, und da frage ich mich aber, wie
er im Lehrbetrieb bleiben konnte.
Grit
Poppe: Angenommen,
er war tatsächlich IM, dann hat er wahrscheinlich nicht angegeben, dass er bei
der Stasi war. Die Leute, die im Öffentlichen Dienst arbeiteten, sollten
irgendwann mal so einen Fragebogen ausfüllen und wer das einfach nicht
angegeben hat und durchkam, hat Glück gehabt.
Hanna: Es fallen immer Leute durchs Raster…
Grit
Poppe: Ja,
klar, das war ja ein mehr oder weniger freiwilliger Akt sich zur eigenen Schuld
zu bekennen, und manche haben dann insofern Pech gehabt, dass dann irgendwann
dann doch noch auftauchte, dass sie als IM, also inoffizieller Mitarbeiter, da
tätig waren. Wenn die das nicht selbst offenbart haben, also nur wenn man ihnen
das wirklich nachweisen konnte, dann haben die zugegeben, für die Stasi tätig
gewesen zu sein. Die meisten haben das geleugnet bis zum Gehtnichtmehr.
Weronika: Rein statistisch müssen das noch
viel mehr gewesen sein, als die, die es schon zugegeben haben, aber es ist
schwierig, das heute herauszufinden. Gerade auch, wenn man den Zugang zu den
Akten nicht hat. In meiner Familie haben nicht alle die Akteneinsicht
beantragt. Ich finde das ein bisschen schade, ich sage mir immer, ich hätte es
gemacht, aber vielleicht kann ich mich da schlecht reinversetzen. Manche sagen
wirklich, sie wollen gar nicht wissen, wer sie bespitzelt hat.
Grit
Poppe: Es
hat auch nicht jeder eine Akte. Es sind Leute, die für die Stasi politisch
auffällig waren, die observiert wurden. Bei mir gab es eigentlich zwei Gründe:
einmal meinen Vater, die wollten wissen, ob auch ich in diesen Gruppen aktiv
werden würde. Das zweite war die Schreiberei, die haben tatsächlich alle, die
geschrieben haben – ich habe ja damals schon Geschichten geschrieben –
überwacht. Man wollte wissen, was und wozu die da schreiben.
Weronika: Wurde das zensiert, was sie
geschrieben haben, bevor es gedruckt wurde?
Grit
Poppe: Zu
Ostzeiten habe ich noch nicht so viel veröffentlicht, vier Geschichten waren
das eigentlich. Die erste Veröffentlichung war beim Mitteldeutschen Verlag. Da
lag auch ein Romanmanuskript rum und meine Lektorin, die mit mir daran
gearbeitet hat, sagte irgendwann, es wird sowieso nicht veröffentlicht, da
fehlen die roten Punkte … ist ja klar, was damit gemeint war. Aber diese vier
Geschichten sind noch erschienen, allerdings war es schon 1989, die waren
natürlich schon lange vorher fertig. Sie sind wesentlich später erschienen, als
sie erscheinen sollten. Was da gewesen ist, das hat man mir nicht
mitgeteilt. Es hieß höchstens, es läge am Papiermangel. Aber so viel
Papier war da nicht, das war ein kleines Heft.
Hanna: Wie war das für Sie als junger Mensch, der
die Leidenschaft im Schreiben sieht, zu wissen, dass man eben in einem Staat
lebt, wo das eingeschränkt wird? Ich kann es jetzt nur auf mich selbst
projizieren, ich schreibe auch sehr gerne. Für mich war das immer ein wichtiger
Teil meines Lebens, und sich vorzustellen, dass man in einem System lebt, wo
das eigentlich kontinuierlich unterdrückt wird und es nicht möglich ist, sich
dazu frei zu entfalten, ist für mich sehr schwierig. Wie war das für Sie? Wie
haben Sie das als junge Person wahrgenommen?
Grit
Poppe: Ich
habe ja als Kind schon geschrieben, da waren es natürlich keine politischen
Geschichten, sondern Abenteuergeschichten. Und ja, als Jugendliche änderte sich
das zwar ein bisschen von der Thematik, aber das waren auch keine politischen
Sachen, das kam erst später. Allerdings schon noch zu DDR-Zeiten. Das hing
damit zusammen, dass Ulrike Poppe, die zweite Ex-Frau meines Vaters, mal
verhaftet wurde, von einem Tag auf den nächsten. Das war
1983/1984, und sie war dann einfach weg. Über diese
Verhaftungserfahrung habe ich tatsächlich noch zu DDR-Zeiten eine Kurzgeschichte
geschrieben. Ich war am Literaturinstitut in Leipzig und habe die da auch
einfach eingereicht. Dann sollten alle ihre Texte vorlesen, nur ich sollte
meinen nicht vorlesen. So haben die anderen das aber mitgekriegt und gesagt,
sie möchten das jetzt hören. Dann habe ich den Text vorgelesen. Da passierte
auch weiter nichts, aber das war eben auch schon um 1987/88.
Weronika: Trotzdem, Respekt. Ich weiß nicht,
ob sich das alle trauen würden.
Grit
Poppe: Also,
wenn ich „Weggesperrt“ zu DDR-Zeiten geschrieben hätte, dann wäre ich im Knast
gelandet. Was im Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau geschah, war ein absolutes
Tabuthema.
Hanna: Ich kann mir vorstellen, dass man
die eigene schriftstellerische Freiheit, die man heute genießt, nochmal ganz
anders wertschätzt, wenn man mit solchen Erfahrungen groß geworden ist.
Grit
Poppe: Wobei
es ja auch im Osten, überhaupt in sozialistischen Diktaturen, diese Praxis von
Autoren gab, etwas verschlüsselt mitzuteilen. Das in Texten so auszudrücken,
dass jeder wusste, was damit eigentlich gemeint ist. Man kann auch ein Märchen
schreiben und eigentlich was anderes meinen. Und das war ziemlich verbreitet.
Weronika: Ich habe meistens das Gefühl, in den
Kreisen, in denen ich auch so unterwegs bin, ist das, womit Sie sich in Ihren
Büchern befassen, doch eher ein Nischenthema, denn viele wissen das immer noch
nicht, was in den Jugendwerkhöfen passiert ist, und viele interessiert das auch
nicht so, weil sie sich damit gar nicht auseinandergesetzt haben. Was denken
Sie, wie könnte es gelingen, dass man eine größere Öffentlichkeit für das Thema
sensibilisiert?
Grit
Poppe: Ja,
das ist natürlich schwierig, aber durch „Weggesperrt“ habe ich gemerkt, dass
die Jugendlichen, die das in den Schulen in Baden-Württemberg gelesen haben,
auch gesagt haben: wir haben erst gehört, wir sollen ein Buch über DDR lesen,
und gedacht, oh Gott, wie langweilig. Und dann haben sie es gelesen und es war
plötzlich eine spannende Story. So haben sie sich auf einmal doch dafür
interessiert, und eben auch in Verbindung der Lesung mit diesem
Zeitzeugengespräch das Thema vertiefen können. Die Geschichte über Anja, die
unverschuldet im Jugendwerkhof landet, hat viele zu ihrer eigenen Überraschung
emotional erreicht, vielleicht nicht alle, aber im Großen und Ganzen muss ich schon
sagen, dass das gut funktioniert hat. Ich denke, dass man die Leute auch über
Bücher oder Filme erreichen kann. Es gibt ja auch viele, die das Geschehen, die
Menschenrechtsverletzungen bis heute leugnen. Ich habe auch Lesungen im Osten,
da kommen manchmal auch Erzieherinnen und Erzieher, und sagen dann: bei ihnen
war das ganz anders. Ja, das kann man glauben oder nicht glauben, aber dieses
Prinzip der Umerziehung war in den Spezialheimen überall gleich. Natürlich gab
es auch in manchen Jugendwerkhöfen sicher auch Erzieherinnen oder Erzieher, die
versucht haben, etwas für die Jugendlichen zu erreichen, das würde ich ja gar
nicht bestreiten. Aber sie haben dieses Prinzip mitgemacht, und wer es nicht
mitgemacht hat, der ist nach einem Jahr wieder weg gewesen, hat sich einen
anderen Arbeitsplatz gesucht.
Hanna: In welchen Kontexten halten Sie Lesungen?
Grit
Poppe: In
Schulen, Bibliotheken, Buchhandlungen, Gedenkstätten, letztens war ich auch in
der Gedenkstätte Torgau und habe da eine Lesung aus dem Sachbuch „Die
Weggesperrten“ mit Zeitzeugengespräch gehalten, da waren auch erstaunlich viele
Leute da. Was für Torgau dann auch schon gut ist, wenn da Leute kommen, die in
dem Ort wohnen, denn vor ein paar Jahren war das natürlich noch schwieriger.
Ich hatte auch mit „Weggesperrt“ eine Lesung in Torgau, das ist aber schon ein
paar Jahre her, und da herrschte so ein komisches Schweigen nach der Lesung,
das ist jetzt nicht mehr so. Sie sind zwar immer noch nicht glücklich über ihre
Geschichte, aber man merkt den Leuten an, dass sie sich damit jetzt eher
auseinandersetzen.
Weronika: Es geht voran, wenn auch vielleicht
nicht so schnell, aber Schritt für Schritt.
Grit
Poppe: Ja,
Nischenthema – das weiß ich nicht, es ist natürlich ein Diktaturthema, man
könnte auch ein anderes nehmen, aber ich fand es gerade passend, weil es eben
so viele Kinder und Jugendliche betroffen hat. Ein großer Teil von den
Betroffenen lebt heute noch, und sie haben selber Kinder oder auch schon
Enkelkinder, und die wollen auch wissen, was da passiert ist. Nicht immer
können die Betroffenen darüber reden.
Weronika: Eben, ich glaube, gerade dafür ist es
wirklich gut, mein Bruder beispielsweise macht eine Ausbildung zum Erzieher in
Baden-Württemberg, und sagt, sie haben dort in der Erzieherausbildungsklasse
gar keine Ahnung vom Thema.
Grit
Poppe: Ja,
das höre ich oft, sowohl im Osten als auch im Westen, und gerade bei den
angehenden Erziehern finde ich das eigentlich besonders wichtig, dass ihnen das
Wissen über die Geschichte der Umerziehung vermittelt wird. Da muss man einfach
diese Mechanismen kennen, die da angewandt wurden, diese Form der autoritären
Erziehung, weil das nicht verschwunden ist. Es gibt immer noch Heime, vor allem
geschlossene Heime, wo nicht unbedingt die Menschenrechte des Kindes im Zentrum
stehen. Ich habe zum Beispiel mal eine Lesung im Theater in Gotha gehabt, bei
der auch angehende Erzieherinnen waren, die hinterher zu mir kamen und sagten:
wir haben gerade ein Praktikum gemacht, und da wurden die Kinder, die nicht
gespurt haben, in einen Raum eingeschlossen, wo nichts war. Das
gibt es also immer noch, die Räume heißen jetzt natürlich nicht mehr Arrestraum
oder Zelle, sondern „Time-out-Raum“, „Beruhigungszimmer“ o. ä., aber nur weil
man den Namen ändert, ist es für ein Kind trotzdem absolut schlimm, allein in
so einem Raum eingesperrt zu sein.
Weronika: Ja, wenn man als Kind auch nicht
weiß, wann jemand wiederkommt, das ist Wahnsinn. Man fragt sich, was da noch
alles ans Licht kommen wird.
Hanna: Es klingt wirklich so, als ob das Problem
darin besteht, dass das Bewusstsein dafür fehlt, dass Ihre Bücher zwar in der
DDR angesiedelt sind, aber die Problemlage nicht mit der DDR aufgehört hat.
Dass das weiterhin Strukturen sind, die reproduziert werden.
Grit
Poppe: Ja,
deswegen haben wir, mein Sohn Niklas Poppe und ich, auch in dem Sachbuch „Die
Weggesperrten“ den Fokus erweitert und u. a. die Haasenburg als Beispiel mit
reingenommen, drei geschlossene Heime im Land Brandenburg, die bis 2013
existierten, in der die Menschenwürde der Kinder und Jugendlichen mit Füßen
getreten wurde. Ich hoffe mal, dass, wenn es in anderen Heimen solche Vorgänge
gibt, das früher oder später aufgedeckt wird. Es braucht immer Leute, die das
in die Öffentlichkeit tragen, um die Kinder da zu schützen.
Hanna: Weil es wirklich so ein belastendes Thema
ist: Wie gehen Sie als Schriftstellerin persönlich damit um?
Grit
Poppe: Zum
einen interessiert es mich einfach selbst. Ich finde, es ist zwar ein
belastendes Thema, aber eben sehr spannend. Und es wurde noch spannender, als
ich die Leute, die als Jugendliche weggesperrt wurden, kennengelernt habe oder
immer noch kennenlerne. Im Laufe der Jahre sind da einige Kontakte entstanden.
Das sind auch sehr starke Persönlichkeiten, die in Torgau gewesen sind. Sie
waren damals schon starke Persönlichkeiten und eben außerdem ein bisschen
rebellisch, so sind sie eigentlich heute noch. Das ist dann interessant,
einfach mit ihnen zu reden und die Geschichten anzuhören und daraus was zu
machen. Und ja, ab und zu schreibe ich auch für Kinder. Das ist dann wieder ein
bisschen Entspannung, zwar ebenfalls Arbeit, aber dann eher leichtere Themen,
das macht dann auch wieder Spaß. Wobei die Jugendromane mir auch irgendwie Spaß
machen, das ist natürlich eher so ein schöpferischer Spaß und vom Thema nicht
so lustig. Aber es gibt ja Leute, die das erlebt haben. Und ich hatte damals so
das Gefühl, als ich diese Gespräche mit den Zeitzeugen führte, bevor ich
„Weggesperrt“ geschrieben habe, dass sich daraus irgendetwas ergeben muss. Dass
ich fast in der Verantwortung stehe, denn wir hatten schon stundenlang geredet
und uns mehrfach getroffen. Die Betroffenen hatten zudem eine gewisse
Erwartungshaltung, ganz zu Recht. Für mich ist es einfach ein spannender Stoff,
muss ich sagen, neben allem Schrecklichen.
Weronika: Ja, das kann ich sehr gut nachvollziehen.
Ich lese Ihre Bücher wirklich in einem Rutsch durch. Und ich finde, diese
Betroffenheit ist auch wichtig, denn wenn man nicht betroffen ist, dann
versteht man das auch nicht so gut. Ich finde, dass es deswegen auch so wichtig
ist, dass die Leute heute wissen, was damals passiert ist.
Grit
Poppe: Viele
sind tatsächlich bis heute traumatisiert, gehen immer noch zum Therapeuten oder
zur Therapeutin. Sie brauchen das, um halbwegs den Alltag zu bewerkstelligen.
Hanna: Wenn Sie auf das heutige Deutschland
schauen, wo sehen Sie da noch die größte Auswirkung der Teilung?
Grit
Poppe: Ich
denke schon, dass im Osten die DDR mehr zu spüren ist. Auch zu spüren, dass es
ein unfreies Land war. Meinetwegen auch in Bezug auf Ausländer. Wir sind anders
aufgewachsen im Osten, es waren selten Ausländer zu sehen. Wir durften nicht
raus aus dem Land, außer vielleicht mal nach Prag oder Polen. Ansonsten hat man
in dieser DDR-Blase gelebt, die auch ein bisschen grau und langweilig war. Ich
denke, das ist schon noch zu spüren. Natürlich auch die Diktatur, viele haben
sich ja nicht kritisch damit auseinandergesetzt. Es sind jene, die heute noch
der DDR hinterherheulen, die der Meinung sind, dass es alles viel besser
gewesen ist.
Hanna: Das ist jetzt auf einem ganz anderen
Niveau, aber hier in Belgien habe ich viel mit Leuten zu tun, die aus
Westeuropa kommen. In meiner WG hat einer meiner Mitbewohner eine Tasse mit dem
DDR-Logo drauf, ein Souvenir, und Postkarten. Diese sehr unreflektierte
Perspektive auf etwas, womit man eigentlich gar keine Berührungspunkte hat. Man
war nur in einem Museum in Berlin und hat danach gedacht, im Sozialismus war
vielleicht alles besser. Das hätte ich gar nicht erwartet. Ich kannte das
natürlich aus Ostdeutschland. Aber ich hätte das überhaupt nicht von Leuten
außerhalb Deutschlands erwartet, die das dann aber so romantisieren. Da werde
ich auf jeden Fall Ihre Bücher als Empfehlung weitergeben.
Grit
Poppe: Ich
war tatsächlich auch schon öfter mal in Belgien. Ich war mehrfach in St. Vith
an einer deutschen Schule, der Bischöflichen Schule und dem Technischen
Institut Sankt Vith und habe da Lesungen gehalten. Die Schülerinnen und Schüler
haben auch die Bücher „Weggesperrt“, „Abgehauen“ und „Schuld“ gelesen im
Unterricht. Bei den Lesungen war auch jedes Mal ein Zeitzeuge dabei.
Also, die Aufarbeitung des Themas beschränkt sich nicht auf Deutschland.
Von
der angesprochenen Ostalgie in Ostdeutschland und anderswo halte ich natürlich
nichts. Die ist für mich höchstens als psychologisches Phänomen interessant.
Weronika: Was sind die heutigen Auswirkungen
der Teilung, die unsere Generation betreffen?
Grit
Poppe: Ich
hoffe, das wird immer weniger. Meine Kinder fühlen sich nicht in erster Linie
als Ossi. Sie wissen, woher sie kommen. Für meinen Sohn, der als Historiker in
Halle arbeitet, spielt das sicher eine größere Rolle. Ich würde es gut finden,
wenn Ost und West nur Himmelsrichtungen sind und diese Unterschiede nicht mehr
so gemacht werden. Gut würde ich es allerdings andererseits finden, wenn sich
Westdeutsche mehr mit der ostdeutschen Geschichte befassen würden. Es kann ja
immer mal passieren, dass man mal umzieht, oder dass die Kinder plötzlich eine
Lehrerin haben, die aus der ehemaligen DDR kommt. Insofern sollte man sich
gegenseitig mit der jeweiligen Geschichte beschäftigen.
Weronika: Ich habe auch immer den Eindruck, dass ich
die DDR-Geschichte als meine Geschichte sehe, aber auch die BRD-Geschichte
ebenso. Wir hatten über beides gleichwertigen Unterricht. Wenn ich aber mit
Leuten spreche, die westdeutsch sozialisiert sind, würden sie die
DDR-Geschichte zum Großteil nicht als ihre Geschichte beschreiben. Sie
identifizieren sich nicht damit.
Grit
Poppe: Das
ist aus meiner Sicht ein Irrtum, zu glauben, die ostdeutsche Geschichte wäre
nicht relevant für das heutige Deutschland. Man sieht spätestens, wenn die
nächsten Wahlen kommen, dass das Geschehen im Osten auch Auswirkungen auf den
Westen haben wird. Leider. Ich finde es schon wichtig, dass man die Geschichte
kennt und das nicht einfach ignoriert. Aber das wird größtenteils ignoriert.
Hanna: Ja, den Eindruck habe ich auch. Wir haben
öfter die Situation, dass wir die einzigen Leute sind, die aus dem Osten
kommen. Wo es klarer wird, dass es für eine Asymmetrie Interesse gibt – auch in
dem Wissen über die jeweiligen Geschichten. Ich glaube auch, dass Bücher einen
großen Beitrag dazu leisten können. Wenn die Leute die Entscheidung treffen,
sie zu lesen.
Grit
Poppe: Oder
wenn die so ein bisschen gezwungen werden.
Hanna: Genau.
Grit
Poppe: Es
war wirklich erstaunlich. Ich hatte eine Zeitlang Kontakt zu einigen
Schülerinnen und Schülern aus Baden-Württemberg, die dann privat nach Torgau
gefahren sind und sich die Gedenkstätte, die Ausstellung und das alles angeguckt
haben. Das fand ich schon beeindruckend, dass es nicht einfach nur ein
Schulthema war. Für einige ging es auch tiefer, die haben dann später ihre
Facharbeiten über das Thema geschrieben. Da war ich auch erstaunt.
Es hat mich natürlich gefreut, dass einige sich auch hinterher damit
beschäftigt haben.
Weronika: Woran arbeiten Sie gerade?
Grit
Poppe: Zuletzt
erschienen ist ja der Krimi „Rabenkinder“. Da arbeite ich jetzt am zweiten
Band, der spielt in der Nachwendezeit in Leipzig. Er wird auch ziemlich düster.
Weronika: Ich habe diese Woche mit dem 1. Teil
angefangen, der fängt auch schon düster an…
Grit
Poppe: Ja,
genau. Am Anfang von „Rabenkinder“ passiert dieser Mord. Da war ich auch ganz
froh, dass ich den Direktor des Geschlossenen Jugendwerkhofs Torgau da
umbringen durfte. Auf dem Papier.
Hanna: Das sind die kleinen Freuden als
Schriftsteller.
Grit
Poppe: Genau,
das sind die Freuden, wenn man schreibt.
Hanna: Dann bedanken wir uns ganz herzlich für
das Gespräch. Wir haben uns wirklich sehr gefreut, dass Sie gesagt haben, dass
Sie sich die Zeit dafür nehmen. Es war eine tolle Gelegenheit für uns, mit
Ihnen und Ihren Werken in Kontakt zu kommen, ein bisschen darüber zu reden. Hat
uns beide sehr gefreut.
Grit
Poppe: Mich
freut natürlich auch das Interesse!
Weronika
Links:
Unerzogen, aufsässig, unverbesserlich – wer sich in
der DDR nicht zur staatskonformen Persönlichkeit formen lassen wollte, erhielt
solche Attribute und wurde oft in Umerziehungsheimen, Spezialkinderheimen,
Jugendwerkhöfen weggesperrt. Denn Angepasstheit und das Funktionieren im
Kollektiv galten der SED als unverzichtbar für den Aufbau einer sozialistischen
Gesellschaft. In das Leben renitenter Kinder und Jugendlicher wurde massiv
eingegriffen, ihre Menschenrechte trat man mit Füßen. Viele von ihnen sind bis
heute traumatisiert von den psychischen und physischen Misshandlungen. Grit und
Niklas Poppe erklären anhand berührender Schicksale dieses wenig beachtete
brachiale Umerziehungssystem und betrachten auch den Umgang mit
"Schwererziehbaren" zur NS-Zeit, das Schicksal der „Verdingkinder“ in
der Schweiz sowie fragwürdige Methoden in der Bundesrepublik und in Heimen der
Gegenwart.
DDR 1988: Anjas Mutter stellt einen Ausreiseantrag aus
der DDR und wird von der Stasi verhaftet. Die 14-jährige kommt in einen
Jugendwerkhof, eine Einrichtung der Jugendhilfe. Geschockt von der Willkür der
Erzieher, der Gewalt und dem Drill, will Anja bald nur noch fliehen. Doch es kommt
noch schlimmer.
1989 in der DDR, Geschlossener Jugendwerkhof Torgau:
Die rebellische Gonzo soll hier, wie schon ihre Freundin Anja, Heldin von
"Weggesperrt", zu einer "sozialistischen Persönlichkeit"
umerzogen werden. Hilflos ist sie den Methoden der Erzieher ausgeliefert und
zerbricht fast an dieser Erfahrung. Als sie in ihren alten Jugendwerkhof
zurückgebracht werden soll, gelingt ihr die Flucht. Sie will endlich frei sein!
In einer Kleingartenanlage trifft sie René, der in den Westen abhauen will.
Gemeinsam schaffen sie es über die grüne Grenze bis in die Prager Botschaft.
Ost-Berlin 1986, wenige Jahre vor dem Fall der
Berliner Mauer: Nach dem Tod seiner Mutter sperrt man Sebastian in das
Durchgangsheim Bad Freienwalde, das einem Gefängnis gleicht. Ausgerechnet sein
Vater, der die Familie vor Jahren verlassen hat, holt ihn dort raus. Doch dann
taucht ein Mann in Sebastians Schule auf. Der Fremde ist ein Mitarbeiter der
Stasi, der Geheimpolizei der DDR. Er behauptet, sein Vater sei ein Staatsfeind
und fordert Sebastian auf, für ihn zu arbeiten. Sebastian hat keine Wahl.
Entweder er bespitzelt seinen Vater oder er riskiert, dass die Stasi auch ihn
in die Mangel nimmt, ihn zurück ins Heim schickt – und womöglich Katja findet.
Katja, in die sich Sebastian ein bisschen verliebt hat und die er versteckt
hält, weil sie aus einem Jugendwerkhof geflüchtet ist. Wenn sie auffliegt, ist
auch er geliefert.
Liebe und Verrat im Schatten der Mauer. Jana ist
fünfzehn, lebt mit ihren linientreuen Eltern in der DDR und ist zum ersten Mal
verliebt. In Jakob. Aber ihre Eltern verbieten ihr den Umgang mit Jakob. Sie
nennen ihn einen Staatsfeind. Außerdem hat Jakobs Familie einen Ausreiseantrag
gestellt. Sieht Jana ihren Freund vielleicht bald nie wieder? Und dann
verschwindet Jakob wirklich. Er landet im Gefängnis, weil es in seinem Land
gefährlich ist, Kritik am System zu üben. Jana vermisst Jakob so sehr und macht
sich schreckliche Vorwürfe. Hätte sie besser auf ihn aufpassen müssen? Wurde
Jakob verraten? Und war das vielleicht sogar ihre Schuld? Ein brisantes Stück
der DDR-Geschichte erstmals in literarischer Umsetzung, von der preisgekrönten
Autorin des Erfolgsromans »Weggesperrt«.
"Rabenkinder. Die Akte Torgau":
Torgau am 10.11.1989: Hoffnung weht durch die kleine
Renaissancestadt an der Elbe. Die Mauer ist gerade gefallen, da wird der Direktor
des örtlichen Jugendwerkhofs tot aufgefunden. Beate Vogt von der
Morduntersuchungskommission wird aus Leipzig geschickt, um zu klären, was
passiert ist. Kurz nach der Befragung des 14-jährigen Insassen Andreas
verschwindet dieser spurlos. Steckt er hinter der Tat? Ist er in den Westen
geflüchtet, oder ist ihm etwas zugestoßen? Und dann bekommt Beate ungebetene
Hilfe: Hauptkommissar Josef Almgruber aus Nürnberg soll ihr die westdeutsche
Arbeitsweise nahebringen. Doch der hat keine Ahnung von DDR-Strukturen. Beate
braucht keine Belehrungen und lässt ihn links liegen. Aber dann wird Beate
bedroht und Almgruber zusammengeschlagen. Sie begreifen, dass sie
zusammenarbeiten müssen. Ob sie wollen oder nicht.
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