Samuel W. und der Bundespräsident

(Ein kurzes Wort vorweg: Weronika und ich sind nach letztem Sonntag fertig mit den Nerven und der Welt. Den Text hier hatte ich glücklicherweise vorher schon geschrieben, was gut ist, weil ich momentan mental und emotional echt nicht in der Verfassung bin, irgendwas über Ostdeutschland zu schreiben, was nicht nur aus Wut und Erschöpfung besteht. Ich weiß nicht, ob und was wir in nächster Zeit überhaupt für Worte finden werden. Schauen wir mal, was kommt. Trotz allem wünsche ich Euch viel Spaß beim Lesen dieses letzten Endes so realitätsfremden, akademisierten und doch ahnungslos bleibenden Beitrags, von dem ich momentan selbst nicht weiß, ob ich ihn noch ernst nehmen kann. Hanna.)




Die Feudalherrschaft ist ein antiquiertes Konzept. Trotz dieser nicht zu leugnenden Tatsache kamen Weronika und ich vor mittlerweile gut einem Monat so nah an ein feudales Ehrfurchtserlebnis, wie man es in einer Demokratie des 21. Jahrhunderts überhaupt noch kommen kann. Durch eine Verstrickung glücklicher Umstände und guter Kontakte standen wir an einem netten Sonntagnachmittag auf der Terrasse des Görlitzer Gerhart-Hauptmann-Theaters, gemeinsam mit Vertreter*innen diverser Medien, dem sächsischen Ministerpräsidenten sowie Frank-Walter Steinmeier. Fotos sind auf unserem Instagram-Account zu finden - für die Zweifler*innen, die mir nicht glauben. Die sind auch nicht KI-erstellt, ich verspreche es.

Der Bundespräsident war für mehrere Tage in den Landkreis Görlitz gekommen, um seiner Liste an abgearbeiteten repräsentativen Tätigkeiten noch ein paar mehr hinzuzufügen. Eine dieser Stationen war das Fit-Werk in Hirschfelde; eine Freundin erzählte mir später, die Säuberungsaktion des Werks vor dem hohen Besuch hätte praktisch mehr Zeit in Anspruch genommen als der Besuch selbst. Zuvor allerdings verbrachte Herr Steinmeier einen Abend im Görlitzer Theater, um ein Bier auf der Terrasse zu genießen und sich danach ein - für mich - durchaus rezensionswertes Stück anzuschauen, Titel: Das beispielhafte Leben des Samuel W. Besagte Terrasse war dann auch die Stelle, an der die Autorinnen dieses Blogs ins Spiel kamen. Wir waren gemeinsam mit Schüler*innen des Joliot-Curie-Gymnasiums als Vertreter*innen der jüngeren Generation Görlitz da und durften einige relativ knapp bemessene Worte mit dem hohen Besuch wechseln, um uns und unsere Projekte vorzustellen.

Aufgrund unseres unvorhergesehenen Talents, den Altersdurchschnitt der Veranstaltung um gute zehn Jahre zu senken, wurden wir außerdem zum beliebten Foto- und Interviewmotiv. Die totale Dauer der Gespräche, bei denen wir Mikrofone vor der Nase hatten, war wahrscheinlich länger als die Dauer des Gespräches, bei dem wir den Bundespräsidenten vor der Nase hatten. Über den journalistischen Mehrwert der Frage "Und, fandet ihr ihn authentisch?" kann man ebenfalls debattieren. Sei es, wie es sei, wir wurden an diesem Nachmittag so einige unserer Visitenkarten los und auch Herr Steinmeier nahm sich ein Exemplar mit. Michael Kretschmer versprach, sich den Blog auch wirklich durchzulesen, was ich ihm sogar abnahm. Leider können wir in unseren Aufrufstatistiken nicht nachvollziehen, ob die betreffenden Endgeräte zufällig in der Dresdner Staatskanzlei zu verorten sind. Aber wir hoffen mal auf das Beste. Ein kleines Shout-Out geht auch raus an die unbekannte Dame, die versuchte, unsere Blogautorinnennervosität vor dem Gespräch mit dem Bundespräsidenten durch den schönen Ausdruck "Der kocht auch nur mit Wasser" zu mildern.

Wir erzählten Herrn Steinmeier also von Eastplaining und unseren Perspektiven als junge Leute auf Ostdeutschland. Für uns war es eine tolle Gelegenheit, wir konnten uns ein wenig selbst wichtig machen und merkten eben auch, dass das mit der Repräsentationsfunktion zu funktionieren scheint. Dass Herr Steinmeier aus diesem Gespräch selbst irgendetwas Essentielles und Langfristiges mitnehmen konnte, ist eher unwahrscheinlich. Aber da steht dann eine Person vor einem selbst, die zwar nur eine Person ist, aber eine derartige symbolische Bedeutung mitbringt, dass man im Nachhinein das Gefühl hat, man hätte gerade mit dem ganzen Land gesprochen. Für uns eine einmalige Chance, für die Person auf der anderen Seite andauernde Realität und eine Bürde, die sicher nicht immer einfach zu tragen ist. So schnell muss man Menschen in öffentlichkeitswirksamen Berufen vielleicht nicht um ihren Alltag beneiden.

Aber weg vom grauen Zeremoniell dieser feudalen Audienz und hin zu dem, worum es an diesem Abend eigentlich ging: Lukas Rietzschels Theaterstück Das beispielhafte Leben des Samuel W. Lukas Rietzschel wird seit einigen Jahren als aufgehender Stern am ostdeutschen Literaturhimmel gehandelt, vor allem sein Roman Mit der Faust in die Welt schlagen hat einen gewissen Bekanntheitsstatus erreicht und ist auch bis heute der einzige seiner Romane, den ich selbst gelesen habe. Vielleicht gibt es dazu irgendwann noch mal einen Extra-Beitrag. Im Auftrag des Görlitzer Theaters schrieb Rietzschel nun oben genanntes Stück, welches die Biographie und Karriere eines fiktiven (oder nicht?) Politikers nachzeichnet, der in einer ebenfalls fiktiven (oder nicht?) rechtspopulistischen Partei aufsteigt. Aufgeführt wurde es bisher in Zittau und Görlitz und an vereinzelten Terminen auch in Berlin.

Das Besondere an diesem Stück ist die Vorgehensweise in der Recherche. Die Inhalte und Texte entspringen nicht Rietzschels eigener Fantasie, sondern sind das Resultat von 100 Interviews, die der Autor über einen längeren Zeitraum hinweg führte. Rietzschel hat also tief in der Erinnerungskiste von Menschen gegraben, die - so scheint es zumindest - persönlichen Kontakt zu einem Beispiel stehenden Politiker der Region hatten. Das Stück tastet sich langsam vorwärts, von Kindheit und Jugend der betreffenden Person über seine Zeit in der Bundeswehr, seiner Polizeiausbildung bis hin zu seinen mehrfachen politischen Richtungswechseln, die ihn am Ende zum Bürgermeisterkandidaten einer unbenannt bleibenden Partei machten. Die einzelnen Charaktere, die auf der Bühne stehen, allesamt in unschuldiges Weiß gekleidet, unterhalten sich über seinen Lebensweg. Sie setzen Samuel W.s Charakter Schritt für Schritt zusammen, während sie ihren alltäglichen Aufgaben nachgehen - Häuser werden gebaut, Kinder bewundert, Nachbarn bespaßt. Überragt wird die Szenerie aus einer erhöhten Position von einer anzug- und seitenscheiteltragenden Figur im Hintergrund; unterbrochen wird sie hin und wieder von Filmsequenzen, in denen sowohl der Machtkampf innerhalb der lokalen Partei rund um die Bürgermeisterwahl dargestellt wird, als auch die Versuche anderer Parteiengagierten, die Radikalität zu bändigen, welche Samuel W. in den Wahlkampf hineinträgt. An irgendeiner Stelle kommt sein Wehrmachtsmantel ins Spiel, ein Geschenk der Oma; sein Spitzname in der Schule (sechs Buchstaben, beginnt mit F-), sein Schlägertrupp; und der Kreis von der Nachwendebiographie zum Nazi schließt sich.

Zuerst ein Wort zum Inhaltlichen, denn, wie gleich noch deutlich werden sollte, bei diesem Stück reicht es nicht aus, nur über Inhalt zu sprechen. Aber first things first. Was auf dieser Theaterbühne in Görlitz stattfand, war ein Spiel mit Kollektiverinnerungen. Aus künstlerischer (und vielleicht auch politischer) Sicht finden wir hier eine eigentlich sehr schlaue Herangehensweise und eine ganz neue Form der Distanz. Man kann sich in gewisser Weise unangreifbar machen, wenn man als Verwerter statt als Schöpfer von Inhalt auftritt, vor allem, wenn dieser Inhalt noch dazu von allen möglichen Personen kommt statt einer einzigen. Die Chancen stehen gut, dass sich der Großteil des Publikums irgendwo wiederfindet. Dieses Wiederfinden kann in Samuel W. alles sein: Die Beschreibung von Wäsche, draußen aufgehangen und schwarz vom Kohlestaub. Arbeitslosigkeit nach der Wende, alle Kinder weg, Traumaerfahrung soziale Marktwirtschaft. Der Michael Kretschmer, das ist doch ein Guter. Oberlausitz, Sachsen und Ostdeutschland der letzten vierzig Jahre, destilliert und für die Bühne aufbereitet. Die Älteren im Publikum erkennen ihre persönlichen Erfahrungen, die Jüngeren - und da spreche ich für mich selbst - erkennen die Generation und Lieblingssätze ihrer Eltern. Es ist schwer, etwas gegen ein Stück zu sagen, dessen Geltungsanspruch so gering ist. Gleichzeitig ist etwas Paradoxes dran an diesem Versuch, auf eine Person zugeschnitten zu sein und gleichzeitig hundert Leute als Quelle zu benutzen, um aus deren Zitaten eine Allgemeingültigkeit schneidern zu wollen.

Aber es funktioniert! Das ist die gute Nachricht. Es funktioniert auf der Bühne, und nur da. Rietzschel hat Theater-Talent, meiner Meinung nach sogar mehr Bühnen- als Buchpotential, und das Stück ist definitiv gut geschrieben, spannend choreografiert und inszeniert, und besitzt gerade genug Selbstbewusstsein und Selbst-Bewusstsein, um nicht gezwungen ironisch oder lächerlich unkritisch zu werden. Man nimmt dem Autor die Distanz ab, die er - trotz seiner existenten und bekannten politischen Positionen - zu einem Stück mit derartiger Brisanz wahren will. Das Stück stellt ein Musterbeispiel für Radikalisierung dar, für eine Ost-Radikalisierung, die mittlerweile schon fast zu einem Standardelement der literarischen "Ich sage, was andere nicht sagen"-Fraktion geworden ist. Es tut, was dieser Blog auch schon versucht hat: erklären, nicht entschuldigen. Ich fand es allerdings durchaus schwierig, mir eine Meinung zum Stück selbst zu bilden, einfach, weil mir jeder Satz irgendwie schon bekannt vorkam. Wie soll man da noch etwas delegitimisieren? Und ist es jetzt das Stück selbst, was man gut findet, oder die Tatsache, dass es die eigene Lebenswelt widerspiegelt?

Die manische Aufzählung der deutschen Neurosen der letzten zwanzig Jahre: EU-Osterweiterung, Euro-Rettung, Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Corona, Ukraine-Krieg.

Die Desillusionierung: Kapitalismus: Ausbeutung für Geld, Sozialismus: Ausbeutung für die Sache.

Die Absurdität Frauenerwerbsquote, als Gesellschaftsziel vom Sozialismus einfach mal so nebenbei in den Kapitalismus übernommen, mit den Begleiterscheinungen ausgelaugte Frauen und ein absolut dysfunktionales Verständnis von Arbeit - am Beispiel von Samuel W.s Mutter: Sie konnte nicht Nein sagen zu Arbeit. Wer sollte es denn sonst machen? 

Deutsche Generationen und ihre Diktaturen: Niemand will Täter gewesen sein.

Das Europa-Syndrom: Wirtschaftsliberalismus? Nein, Freiheit.

Die Wut über Identität: Die wollten, dass wir Wessis werden.

Der zentrale Moment des Stücks, das Brechen der Illusion: Den Sieg hätten wir ja eigentlich verdient gehabt. - Das verwenden sie aber nicht in ihrem Stück, oder?

Die wirklich spannende Frage bei jedem Kunstwerk ist aber natürlich nicht, ob es auf der Bühne funktioniert. Kunst ist Kunst ist Kunst - klar, sicher, aber was macht Kunst mit Gesellschaft, und was macht Gesellschaft mit Kunst? Denn auch für Samuel W. endet die Bühne irgendwo und man findet sich wieder in einem Theatersaal, Bundes- und Ministerpräsident im Publikum, die sich zusammen mit den Besitzer*innen des kulturellen Kapitals der Stadt ein Stück über einen Lokalpolitiker und seinen Weg zur Radikalisierung anschauen. Denn ein Disclaimer, wie man ihn manchmal am Anfang von Büchern findet, könnte diesem Stück nicht so einfach verliehen werden: Sämtliche Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen sind rein zufällig, nicht wirklich, nein. Samuel W. sitzt im Görlitzer Stadtrat, steht aktuell auf Wahllisten und hat als AfD-Frontmann lokale Bekanntheit erreicht. Wie viel Sebastian Wippel in Samuel W. wirklich drinsteckt, wird das Publikum nicht erfahren, und ich bezweifle, dass es irgendjemand weiß - so ist das eben mit oral history, Geschichte, die kein Fakt ist, sondern sozial konstruiert.

Das beispielhafte Leben des Samuel W. ist ein Produkt seiner Umstände, sowohl physisch (als Auftragswerk des GHT) als auch künstlerisch. Es wird in Görlitz aufgeführt, warum? Weil die bildungsbürgerliche und AfD-ferne Elite da stark genug ist, um ein solches Stück zu erlauben. Und es wird in Deutschland aufgeführt, im Jahr 2024, in dem Kunst sich auf einmal (wieder?) in einer Beobachterrolle wiederfindet: geschockt von dem, was passiert, aber auch nicht fähig, wegzuschauen. Mich persönlich würden zwei Wahlergebnisse interessieren: das des Theaterpublikums und das der Befragten, deren Sätze Rietzschel in seinem Stück verwendet. Deren Ängste werden auf der Bühne reproduziert, und das Publikum lacht. Nicht immer, natürlich nicht, aber vielleicht ein, zwei Mal zu oft. Hätte ich dieses Stück in einem westdeutschen Theaterhaus gesehen, würde diese Rezension (so, wie ich mich selbst kenne) wesentlich kritischer ausfallen, als sie es ist. Denn die Frage bleibt: Wer schaut sich hier wen an? Wer spielt für wen? Wer stellt wen dar?

Ich schätze die Institution Theater sehr und halte sie für eine absolute gesellschaftliche Notwendigkeit. Gerade dieses Theater darf und muss sich mit Themen wie Radikalisierung, Rechtsextremismus und staatlichem Versagen auseinandersetzen. Man kann auch davon ausgehen, dass diese Auseinandersetzung umso eindrücklicher und nachhaltiger geschieht, wenn sie sich direkt auf die gelebte Realität des Publikums bezieht. Aber wer darf, kann und sollte die im Stück eingangs gestellte Frage: "Wer ist Samuel W.?" beantworten, wenn Samuel W. den Bereich des Fiktiven verlässt? Darf, kann und sollte ich das, als Mitglied des Publikums an diesem Abend? Ich, mit allen meinen eigenen Voreingenommenheiten, meinen linken Positionen und meiner (Ost-)Biographie? Das ist eine Frage, die nicht ganz so einfach zu beantworten ist. Samuel W., ist das eine Idee, ein Ort, ein Gedanke?, wird am Anfang gefragt. Samuel W., der Beispielhafte, die Person, die zur Inkarnation eines Prozesses und einer Gesellschaft wird. Das Stück zieht viel seiner Stärke aus dem Allgemeinen, dem Kollektiven, dem gemeinsam Erlebten. Gehen wir einen Schritt zu weit, wenn wir eine Einzelbiographie so überhöhen? Wie weit sind wir alle "der Osten"?

Sebastian Wippel war an diesem Abend nicht im Publikum. Ich kann nicht sagen, ob er das Stück kennt oder sogar versucht hat, eine Karte zu bekommen. Bequemerweise waren die aufgrund des Bundespräsidenten so oder so nur begrenzt verfügbar. Aber - und damit mein letzter Gedanke zu diesem Thema - ich wundere mich nach wie vor, dass Wippel die Existenz dieses Stücks nicht gnadenlos ausgenutzt hat, um sich in seinem Narrativ die da oben gegen uns bestätigen zu lassen. Wer könnte es ihm verdenken, immerhin ist er im Wahlkampf, da hätte ich dasselbe getan, wenn ich er wäre. Warum hat er es nicht gemacht? Vielleicht - und damit bestätige ich dann wieder meine eigene Abgehobenheit aus dem Publikum heraus - vielleicht zeigt sich darin dann doch wieder die generelle Unfähigkeit, die er mit seiner Partei teilt.

Wer sich das Stück noch anschauen will - es wird nach wie vor am GHT aufgeführt und lohnt sich durchaus.

 

Hanna





Für die, die bis zum Ende dabeigeblieben sind, hier doch noch eine Sammlung an mehr oder weniger gestellten und meme-würdigen Fotos als Belohnung:


Unsere Gesichter auf dem Präsidenten-Account, sicher der Höhepunkt unserer beider Karrieren.

 
 
Politische Weitsicht, Symbolbild.






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