Dieser Text geht auf einen Workshop der Initiative (K)Einheit zurück, den ich beim N5-Symposium in Leipzig am 09.11.2024 mitmachen durfte. Vielen Dank an die Workshopleitung sowie an alle inspirierenden Menschen, die dort ihre Perspektive mit mir geteilt haben.
Schlagwörter sind die Währung der Stunde. Worte, die in jedem, der oder die sie hört, ein vorgefertigtes Netz an Bildern, Erfahrungen, Konzepten und Narrativen aus dem Dornröschenschlaf zu wecken vermag: das ist es, was verkürzte Realitätsdarstellungen und irreführende Ungefähr-Behauptungen erst so richtig würzt. Ostdeutschland ist eines dieser Wörter: Leere Städte, AfD, Wutbürger. War man noch nie da, dann ist das keine Bildungslücke und keine Scheuklappe in der Wahrnehmung deutscher Innenpolitik, sondern Normalfall und verdient keine gesonderte Aufmerksamkeit. Die sogenannte "junge Generation" ist ein weiteres dieser Wörter. Alle faul, niemand kann mehr richtig arbeiten, verweichlicht, Doppelmoral, Work-Life-Balance, Selbstsucht, und sowieso sind die jungen Leute von heute viel schlimmer als alle Generationen, die je vor ihnen kamen (was in diesem Land eine besonders mutige Behauptung ist). Ostdeutschland und die Generation Z haben eine hervorstechende Gemeinsamkeit, und zwar ihre in letzter Zeit anhaltende Präsenz in den Schlagzeilen und in auf Online-Foren veröffentlichten Meinungsbeiträgen. Warum wählen die denn auf einmal alle rechter, als es für sie vorgesehen war?
Ich hatte die Chance, meine kognitiven Netzwerke in Bezug auf die Schlagwörter "Ostdeutschland" und "junge Menschen" zu aktivieren und rezustrukturieren. Bei einem Workshop der Initiative (K)Einheit sprachen wir über die Perspektiven der jungen Generation auf den und im Osten. Was denkt man über die eigene Heimat, was will man hier, was kann man hier finden? Diskussionsgrundlage war ein Ausschnitt aus der mehrteiligen Seriendokumentation von (K)Einheit, die junge Menschen aus Chemnitz und Umgebung über ihre Vergangenheit und Zukunft in Ostdeutschland sprechen lässt. Chemnitz, Rassismus und rechte Gewalt, Chemnitz, die baldige Kulturhauptstadt Europas, Chemnitz, die "Triebfeder der ostbewussten Szene", wie es jemand formulierte. Die Annahme ist oft, dass es in Orten wie Chemnitz und den noch kleineren ostdeutschen Orten zwar eine Vergangenheit gibt, aber keine Zukunft. Chancen- und Perspektivlosigkeit, fehlende Wirtschaftskraft, Abwanderung als Effekt statt als Ursache - hier kann man nicht glücklich werden und deswegen will man es auch gar nicht erst versuchen. Hat man diesem Narrativ als einzelne junge ostdeutsche Person überhaupt noch etwas entgegenzusetzen?
Ja, hat man, und das ist sehr eindeutig feststellbar. Denn man will nicht weg, so scheint der Konsens in der Workshop-Gruppe, nicht von innen heraus, nicht, weil man eine Entscheidung zwischen mehreren gleichberechtigten Optionen treffen kann. Viele wollen bleiben. Die, die gehen, tun es nicht aus freien Stücken, sondern weil sie für sich selbst keine andere Möglichkeit sehen, als wegzugehen. Es ist nicht der Osten selbst, der nicht lebenswert ist und die Leute verscheucht. Die blühenden Landschaften, für viele sind sie da, in der Innenwahrnehmung der eigenen Heimat, in der man aufgewachsen und an der man selbst gewachsen ist. Ich würde gerne irgendwann zurückkommen, wer kennt diesen Gedanken nicht, aber der Konjunktiv ist immer in der Formulierung drin.
Und vielleicht sind auch aufgrund dieser positiven Sicht auf die eigene Heimat die Antworten darauf, was der Osten eigentlich zu bieten hat, so unglaublich vielfältig. Einer der Interviewten in der Dokumentation von (K)Einheit sagt folgenden Satz, der mich nachdenklich gemacht hat: "Im Westen gibt's viel schon so lange, dass es gar keine Möglichkeiten gibt, sich auszubreiten". Was hat im Gegenzug der Osten? Leerstand - oder offene Räume? Ostdeutschland als Laboratorium von Gesellschaft, Kultur und Demokratie, als Chance für eine gesellschaftliche und demokratische Neuerfindung, dieser Tenor ist mir nicht vollständig neu, Steffen Mau füllt seit Monaten Veranstaltungssäle mit derartigigen Impulsen, aber ich denke, besonders die Perspektive junger Menschen verdient hier noch viel mehr Aufmerksamkeit. Für viele ist Ostdeutschland Veränderung, Transformation, Freiheit. Wer mitgestalten will, der wird hier Chancen dazu finden. Wir sehen das aktuell in der Kulturszene, wir sehen das in urbanen Räumen, wir sehen das in neu entstehenden zivilgesellschaftlichen Bündnissen. Ostdeutschland erlebt "multiple Herausforderungen", hier zitiere ich eine Workshop-Teilnehmerin, und das heißt, dass man praktisch mit allem, worauf man Lust hat, etwas beitragen kann.
Wo nicht viel ist, kann noch viel werden. Es mag im Osten eine geringere Kirchenbindung geben, eine geringere Parteibindung, weniger Vereine. Aber wir können nicht annehmen, dass eine Gesellschaft nur funktioniert, wenn sie Kirchen, Parteien und Vereine hat, oder dass diese die Zauberformel sind, um Menschen in ihre Gemeinschaft einzubinden. Auch in Westdeutschland - und so gerne mir das Westdeutsche vorerzählen - sind Kirchen, Parteien und Vereine keine langfristigen Garantien für demokratische Einstellungen in der Bevölkerung oder Schutzmechanismen gegen Populismus. Dieser Mythos, so ist zumindest mein Eindruck, resultiert nur zu gerne aus dem doch sehr altbundesrepublikanischen Demokratie-auf-dem-Papier-Vertrauen und der Grundgesetz-Überheblichkeit - wir wissen, wie es läuft, also haltet euch an uns. Demokratie kann nur SO funktionieren. Das vertut Chancen, die sich aus dem anderen ostdeutschen Demokratieverständnis und den direkteren Formen von Engagement ergeben. Und genau das sind die Chancen, die wir vielleicht besser nutzen sollten, um den Herausforderungen unserer globalisierten und multiperspektivischen Gesellschaft, die nach gemeinsamen Ankerpunkten sucht, besser gewachsen zu sein.
Damit ich nicht mit dem Vorwurf konfrontiert werde, die ostdeutsche Zivilgesellschaft zu romantisieren, hier einige Relativierungen (die braucht jeder gute Text). Eine Workshop-Teilnehmerin verwendete die schöne Formulierung der "dornigen Chancen" in Bezug auf den leeren Raum in ostdeutschen Städten, aber ich denke, diese Wendung ist auch generell sehr passend für das, was wir heute die ostdeutsche Zivilgesellschaft nennen. Denn ganz ohne Unterstützung geht es eben nicht. Es braucht Geld und Menschen, sowohl für die urbanen Pop-Up-Projekte in leerstehenden Häusern als auch für die Feuerwehrfeste auf dem Dorf. Durch Strukturen, die anders sind, als sie das System Gesamtdeutschland vorsieht, ist es möglicherweise schwieriger, an bestimmte Ressourcen zu kommen. Aber das ist nichts, was nicht änderbar wäre. Eine weitere Frage ist das Thema ländlicher Raum - Ostdeutschland droht ein Pendler-Problem. Denn wer aufs Dorf oder in die Kleinstadt zieht und in Dresden, Leipzig oder Berlin arbeitet, der wird sehr wahrscheinlich weniger in die Community vor Ort eingebunden sein, als eine Person, die direkt in der Nähe ihren Lebensunterhalt verdient. An dieser Stelle könnte das Thema Homeoffice und Infrastruktur relevant werden. Und zu guter Letzt - auch die AfD ist ein nicht zu vernachlässigender Aspekt, wenn es um die Gestaltung der Gesellschaft geht. Die zahlreichen kleinen Orte, die von anderen Parteien vergessen und von der eigenen Bevölkerung verlassen sind, was haben sie der AfD entgegenzusetzen, die oft als einziger gesellschaftlicher Akteur auftritt? Was machst du, wenn ewig und drei Tage nie jemand in dein Dorf kommt, aber Björn Höcke sich im Vergleich zu allen anderen dazu herablässt, mit dir zu reden? Und vor allem: was machst du, wenn du Ideen hast für deine Gemeinschaft, die bunt sind, divers, neu, innovativ - und du hast niemanden, der sich mit dir den Nazi-Bedrohungen entgegenstellt, denen du auf einmal ausgesetzt bist?
Die Frage ist also, was zu tun ist, damit aus den dornigen Chancen richtige Chancen werden und das Ost-Potential nicht ungenutzt bleibt. Im Workshop war das eine der Fragen - was kannst du tun, um weitere Zukunftsperspektiven im Osten zu schaffen? Einer meiner Gruppenmitglieder meinte, er hätte als Antwort ein Wort aufgeschrieben - zurückgehen. Ich schaute runter auf mein Blatt Papier und las das gleiche Wort in meiner eigenen Handschrift. Zurückgehen, ist das die Antwort? Vielleicht ist es für mich schon keine mehr, dachte ich dann, aber wer bin ich denn, mir selbst Optionen vorzugeben. Kultur mitbringen und machen, ein weiterer Punkt. Kultur an dieser Stelle meint nicht nur Orchester und Theater (so ein Kulturverständnis lehne ich persönlich so oder so ab), sondern Kultur der Gemeinschaft - Dorftreffen, Bibliotheken, Feste, Handwerk, (Gras-)Clubs, Moped-Ausfahrten, und was Menschen sich noch so einfallen lassen, um sich das Zusammenleben angenehm zu gestalten. Leute motivieren, an solchen Events teilzunehmen. Das Schaffen von sogenannten Dritten Orten, das sind Orte, an denen Menschen zusammenkommen können, ohne Geld auszugeben. Engagement für Bildung, Bildungsgerechtigkeit und Teilhabe. Das bewusste Verlassen der Studi-Bubble, so schwer es (auch mir) fällt. Ein ostdeutsches Role Model werden, denn das geht auch, wenn man nicht mehr im Osten lebt. Ich weiß nicht, ob mein Lebensmittelpunkt in Ostdeutschland bleiben wird. Aber ich werde mein Möglichstes tun, um den Kontakt und die Verbindung zu dieser meiner Region weiter aktiv zu leben.
Es geht ja letzten Endes nicht darum, Menschen auf Krampf dabehalten zu wollen. Es geht um die Option des Zurückkommens und des Hingehens, das Zurückkommen für die in Ostdeutschland Aufgewachsenen, das Hingehen für die ausländischen (inklusive der westdeutschen) Fachkräfte, die aktuell gar nicht erst auf die Idee kommen würden, Ostdeutschland überhaupt in Betracht zu ziehen. Das Dableiben von Menschen, das birgt seine ganz eigenen Gefahren, denn eine isolierte Gemeinschaft ohne frische Ideen, ohne Menschen, die die vorerzählte Homogenität auf die Probe stellen, diese Gemeinschaft wird schnell zur Selbstreferenz: Die Welt ist so, weil wir so sind. Gerade in Ostdeutschland braucht es Input von außen, denn homogene Gesellschaften inmitten einer sehr heterogenen Welt und nationalen Öffentlichkeit verfallen sonst zu leicht den Erzählungen des Populismus und des modernen (=populismus-inspirierten) Konservatismus. Und auch auf einer individuellen Ebene kann das Weggehen sehr viele positive Folgen haben: Ich selbst habe die größten Schritte in meiner Persönlichkeitsentwicklung nicht in Görlitz beobachtet, sondern in Leuven. Der Osten braucht junge Leute, die mal weg waren, die über ihren eigenen Tellerrand hinausschauen, die andere Lebensrealitäten und Identitäten kennengelernt haben, die sich der Vielfalt der Welt außerhalb der eigenen Kleinstadt bewusst sind. Und das nicht nur wegen der Wahlergebnisse.
Natürlich sind fehlende Wirtschaftskraft und Weltoffenheit nicht die einzigen Faktoren, die Exil-Ostdeutsche davon abhalten könnten, zurückzukommen. Wer Leute in die Ferne schickt, geht bewusst das Risiko ein, dass diese die Ferne nicht mehr loswird, und es entstehen Bindungen, Freundschaften und Beziehungen, Pull-Faktoren, die andere Dinge nebensächlich werden lassen. Dafür ist zwanzig bis dreißig ein gefährliches Alter. Die wenigsten Menschen suchen sich Freund:innen und Partner:innen nach dem Wohnort aus. Es wird also immer einen gewissen Schwund geben; wenn Menschen weggehen, fällt ihnen ihr Glück manchmal erst dort vor die Füße, wo sie hingegangen sind. Aber wir müssen an einen Punkt kommen, an dem die Frage nach dem Wohin mit einer gewissen Ost-West-Balance einhergeht.
Wer will schon weg aus der Heimat, diese Frage wird gestellt, und ich sehe mich darüber nachdenken. Wie ist das eigentlich zum Quo vadis der ostdeutschen Jugend geworden, gehst du weg, hast du vor, wiederzukommen? Gibt es das im Westen so auch, den Entscheidungszwang, der auf beiden Seiten Verluste zu bedeuten scheint? Kann man das lernen, den Umgang mit Entfremdungserfahrungen (und wenn ja, kann mir jemand ein paar Tricks verraten?) Und warum fragen wir (und fragt sich) eigentlich nur die ostdeutsche Jugend, ob Dableiben überhaupt eine Option ist?
Hanna
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