Nachdem ich vor ungefähr einem Jahr "Der Osten - eine westdeutsche Erfindung" von Dirk Oschmann gelesen hatte, ging es mir ähnlich, wie Hanna es im letzten Blogbeitrag beschrieben hat. Ich war mitgerissen von dem Stil des Buchs, wütend über die Ungerechtigkeiten und froh darüber, dass endlich einmal jemand mit Reichweite diese Themen anspricht. Erst nach und nach bemerkte ich erstaunt, dass nicht nur viele Westdeutsche das Buch kritisieren, sondern auch - oftmals illustre - Persönlichkeiten aus dem Osten. Neulich hatte ich in der Jungen Akademie der Katholischen Akademie Berlin die Gelegenheit dazu, Fragen an Wolfgang Thierse zu richten. Er fand das Buch furchtbar und nannte es "das Letzte, was wir jetzt brauchen". Generell habe ich wahrgenommen, dass viele Ostdeutsche sich von dem Buch nicht nur bestärkt, sondern auch vor den Kopf gestoßen fühlen: weil sie seit Jahren und Jahrzehnten daran arbeiten, die Unterschiede zwischen Ost und West abzubauen, weil sie sich Tag für Tag in ihrem Umfeld für die Besserstellung der Ostdeutschen einsetzen, weil sie versuchen, das Klischee des Jammer-Ossis zu entkräften. Diese Menschen sind irritiert: Warum tritt Oschmann, der es ja (auch nach eigener Aussage) "geschafft hat", nach vorne und verreißt ihnen ihre Arbeit? Sie nehmen das Buch als Entwertung ihrer eigenen Bemühungen war, und sind vielleicht gekränkt darüber, dass diese Schrift mehr Aufmerksamkeit bekommt als ihr jahrelanges Ringen um Gerechtigkeit. Doch, wie Hanna es in ihrem Beitrag schrieb, verhält es sich nun einmal so, dass Polemik sich gut liest, verkauft und rezipiert. Die Menschen, die sich ärgern, dass Oschmann etwas in den Fokus gerückt hat, was scheinbar ihre Arbeit entwertet, nehmen vielleicht nicht war, wie dieses Buch eben doch für eine verstärkte gesellschaftliche Debatte über die Ost-West-Thematik gesorgt hat. Das Problem muss klar benannt werden, damit es Reichweite bekommt - an diesem Punkt sind wir jetzt angekommen. Aber was nun? Was kommt nach Oschmann?
Ich bin der Meinung, dass das Potenzial dieses Buches genutzt werden muss, um auf die Projekte aufmerksam zu machen, die bereits existieren und sich seit langer Zeit für mehr Sichtbarkeit und Gerechtigkeit im Bereich Ostdeutschlands einsetzen. Deshalb möchte ich diesen Beitrag einigen dieser Initiativen widmen (was nicht automatisch bedeutet, dass diese Initiativen oder ihre Vertreter*innen sich gegen Oschmann ausgesprochen hätten, ich nehme das nur als Anlass, um sie euch vorzustellen!) und erhebe keineswegs Anspruch auf Vollständigkeit. Lasst uns gerne jegliche Anmerkungen und Ergänzungen zukommen.
Die Initiative "Wir sind der Osten" porträtiert verschiedene Menschen in und aus Ostdeutschland, um zu zeigen, dass es "den Osten" nicht gibt und die Gesellschaft so heterogen charakterisiert ist wie jede andere auch, während gleichzeitig in vielen Bereichen ein ähnlicher Erfahrungshorizont fluoresziert. Meiner Meinung nach stehen diese Porträts für eine unglaubliche Lebendigkeit und Vielschichtigkeit, und ich verweise jede Person, die sich mir gegenüber äußert, es gebe im Osten doch sowieso nur Rechtsradikale, stets galant auf diese Seite. Schaut es euch unbedingt an. Gerade in der heutigen Zeit ist es wichtig, gegen andere Stimmen laut zu werden, die "den Osten" für sich beanspruchen wollen, und demokratisch laut zu sagen: Nein, wir sind der Osten.
Die Initiative "Netzwerk 3te Generation Ost" engagiert sich für eine angemessene Repräsentation Ostdeutscher auf allen gesellschaftlichen Ebenen und zeigt Möglichkeiten zum Engagement auf. Insbesondere organisiert sie auch Vernetzungskampagnen und -veranstaltungen, die Menschen ostdeutscher Herkunft zusammenbringen. Durch eine Hinterfragung der gemeinsamen Sozialisation und die klare Thematisierung gemeinsamer Umbruchserfahrungen kann es gelingen, gemeinsam an einer besseren Zukunft zu arbeiten. Diesen Austausch bietet das Netzwerk - schaut vorbei.
Inwiefern Menschen wie Hanna und ich, die nach 1990 geboren sind - genauer gesagt, der GenZ angehören, also zwischen 1997 und 2012 das Licht der Welt erblickten - bis heute von den Nachwirkungen der deutschen Teilung und der "Wende" betroffen sind, thematisiert das Projekt (K)Einheit. Neben einem Film, in dem Schicksale einzelner junger Menschen ostdeutscher Herkunft vorgestellt werden, organisiert (K)Einheit Treffen zum gesamtgesellschaftlichen Diskurs - mit dem Ziel, unsere jungen ostdeutschen Stimmen sichtbar zu machen. Auch hier - klare Empfehlung zum anschauen.
Der Podcast bezeichnet sich selbst als "Der Podcast, der Stimmen aus Ostdeutschland zu Wort kommen lässt." Das sagt eigentlich schon viel - denn hier wird Menschen eine Stimme gegeben, die sonst vermutlich ungehört blieben. Viele Ostdeutsche beschweren sich über mangelnde Repräsentation und mangelnde Partizipationsmöglichkeiten. Hier erhalten sie die Möglichkeit dazu, über ihre Ansichten zu sprechen. Der Podcast lädt viele verschiedene Persönlichkeiten mit vielen verschiedenen Meinungen ein und zeigt dabei wieder: "Den" Osten oder "den/die" Ostdeutsche*n" gibt es nicht. Hört rein, es ist, wie ihr vermuten könnt, sehr hörenswert.
Darüber haben wir ja berichtet, weil ich auch selbst daran teilgenommen habe. Ich möchte hier gar nicht viel dazu sagen, sondern verweise auf den Blogbeitrag vom 14. Dezember 2023. Nur soviel: Ich halte eine Vernetzungsveranstaltung für junge Ostdeutsche für essenziell, um gemeinsam an den gesellschaftlichen Problemen zu arbeiten.
Neues Deutschland - Artikel im Spiegel
Anfang März erschien im Spiegel (leider hinter einer Paywall, aber, äh, ihr wisst schon) ein Artikel über die neue Ost-Identität, der endlich einmal mit den - in der Vergangenheit auch vom Spiegel bedienten - Klischees über "den Ossi" aufräumt und einen diversifizierten Osten mit viel demokratischem Potenzial, beispielhaft dargestellt an einigen Persönlichkeiten, ins Auge nimmt, auch in Betrachtung der kommenden Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen im September diesen Jahres. Ich finde diese Entwicklung (man bedenke das "So isser, der Ossi"-Cover mit dem Fischerhut vor ein paar Jahren) doch sehr löblich. Aber auch hier: Ich bin mir sicher, dass Oschmanns Buch diese Debatte verstärkt hat und Autor*innen sowie Journalist*innen erst auf die Idee gebracht hat, sich "mal wieder" mit diesem Thema auseinanderzusetzen.
Ich finde nicht, dass Oschmanns Buch im Widerspruch zu gesellschaftlichem Engagement steht oder stehen muss. Ich sehe es eher als Anreiz, weiter für eine gerechte Gemeinschaft einzutreten. Deshalb möchte ich auf die Initiativen aufmerksam machen, die mir begegnet sind, und euch dazu ermutigen, sich mal mit diesen auseinanderzusetzen. Was kommt nach Oschmann? Das, was schon vorher da war und sich nun im Rampenlicht der Öffentlichkeit weiterentwickelt: starke, demokratische ostdeutsche Persönlichkeiten und Strukturen. Und schon jetzt ein Appell an alle, die in Brandenburg, Sachsen und Thüringen wahlberechtigt sind: Geht im September wählen. Und wählt nicht die AfD.
Weronika
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