Am Sonntag wird ein neuer Bundestag gewählt. Dies ist wohl inzwischen aufgrund der zahlreichen Plakate, TV-Duelle und Nachrichten bekannt. Wir wollen heute besonders eine der antretenden Parteien unter die Lupe nehmen, die gerade in Ostdeutschland fast überall die Mehrheit erreicht: die AfD. Wir möchten untersuchen: Warum sollte man am Sonntag die AfD wählen?
Dazu untersuchen wir nicht nur das AfD-Wahlprogramm und analysieren, inwiefern Wählergruppen von einer Umsetzung profitieren würden. Wir schauen auch, inwiefern die Umsetzung konkrete Verbesserungen für unsere Gesellschaft bewirken würde. Wir schauen: welche dieser Punkte spielen für Menschen, die ihr Kreuz bei der AfD setzen, eine Entscheidungsrolle? Und was steckt eigentlich dahinter? Beginnen wir also mit der Lektüre. Das Wahlprogramm umfasst 177 Seiten und ist in drei Teile gegliedert: "Zeit für Wohlstand", "Zeit für Sicherheit" und "Zeit für Zusammenhalt".
Teil 1: Zeit für Wohlstand. Detaillierter erfolgt die Auseinandersetzung mit Sozialer Marktwirtschaft, Bauen, Wohnen, Infrastruktur, Energie, Verkehr und Digitales sowie Finanzen und Steuer.
Teil 2: Zeit für Sicherheit. Detaillierter erfolgt die Auseinandersetzung mit Äußerer Sicherheit, Asyl- und Migrationspolitik und Innerer Sicherheit.
Teil 3: Zeit für Zusammenhalt. Detaillierter erfolgt die Auseinandersetzung mit dem Demokratie- und Rechtsstaat sowie der Kultur- und Medienpolitik.
Interessanterweise ist das zusammenfassende AfD-Flugblatt mit den wichtigsten Kernpunkten des Wahlprogramms ganz anders strukturiert. Hier finden sich Migrations-Themen deutlich weiter vorn. (Übrigens: wer sich selbst ein Bild machen will, findet sowohl das komplette Wahlprogramm als auch das Flugblatt online. Hier verlinken wollten wir es nicht.)
Und nun? Was sagt die AfD zu all diesen Themen? Zentral ist in sehr vielen Fällen eine Rückkehr zu einem "Früher", in dem vieles noch "besser lief". Zurück zur D-Mark, zurück zur Kohleenergie, "Kehrtwende" in der Asylpolitik (wobei unklar bleibt, warum dies als "Kehrtwende" bezeichnet wird), zurück zu Diplom und Magister statt Bachelor und Master, zurück zu einem rein traditionellen Familienbild, zurück zu "wieder sich lohnender Arbeit" (wobei unklar bleibt, welche Grenze sich lohnende von sich nicht lohnender Arbeit trennt), zurück zu Zeiten, in denen noch nicht so viele "Ausländer" hier gewohnt haben, zurück zur deutschen Leitkultur. Nur drei von 177 Seiten werden der Digitalisierung gewidmet, wobei eine ganze Seite dafür verwendet wird, Behauptungen über fehlende Neutralität weltweit anerkannter neutraler Faktenchecks zu tätigen. Die Kernaussage: eine Abkehr dieser als "modern" bezeichneten Entwicklungen und eine Rückkehr zum Kenntnisstand "früher" würde unsere gesellschaftlichen Probleme lösen. Von dem Wirtschaftsprogramm würden besonders mittel- bis bessergestellte Personen profitieren, für schlecht verdienende Menschen oder Bürgergeld-Empfänger würde sich die Lage deutlich verschlechtern.
Gut, ich habe dieses Wahlprogramm nun gelesen. Es liest sich eben ultrakonservativ, rechts und in Teilen verängstigt. Aber seien wir mal ehrlich: Wählt man die AfD wirklich, weil man sich mit dem Programm identifiziert? Hat das bis auf mich und irgendwelche Politmagazine überhaupt jemand gelesen? Oder wählen Menschen diese Partei, weil sie medienwirksam anspricht, was sich in den tiefsten, unreflektierten Ängsten der Gesellschaft widerspiegelt?
Wovor haben Menschen intuitiv Angst? Vor Veränderung. Vor dem Unbekannten. Menschliche Gehirne sind darauf ausgelegt, Tatsachen und Situationen zu vereinfachen und in Schubladen zu sortieren, um besser klarzukommen und schnell reagieren zu können. Das haftet noch aus prähistorischen Zeiten an uns, in denen unsere Vorfahren dazu gezwungen waren, binnen weniger Sekunden Entscheidungen zu treffen, von denen Leben und Tod abhingen - zum Beispiel beim Jagen. Aber diese Art der Entscheidungstreffung, diese Art des Denkens ist reserviert für extreme Umstände! Nicht für die Politik. Klar strukturierte, zukunftsorientierte, vorausschauende Lösungen können damit nicht gefunden werden. In der heutigen Zeit ist die Welt oftmals überfordernd laut und komplex und unübersichtlich. Eine Rückkehr zu "früheren Zeiten", in denen das angeblich nicht so war, scheint verlockend und einfach.
Noch einfacher: Man beobachtet Korrelationen und interpretiert sie als Kausalitäten. Der Unterschied dabei: Korrelationen beschreiben zeitgleich stattfindende Ereignisse und Entwicklungen, während Kausalitäten sie miteinander in Verbindung bringen. Das Problem daran ist, dass Korrelationen gerade von der AfD oft stark vereinfacht als Kausalitäten dargestellt werden. Aktuelle gesellschaftliche Probleme, die laut AfD in den letzten 10 Jahren schlimmer geworden sind, werden zum Beispiel massiv auf die Migration abgewälzt, die im letzten Jahrzehnt zugenommen hat (Korrelation, es ist zeitgleich passiert). Aber handelt es sich hier um eine Kausalität (hängen diese Fakten also zusammen)? Keinesfalls. Denn sämtliche andere Faktoren werden einfach ausgelassen. Der technische Fortschritt, die Corona-Pandemie, normale wirtschaftliche Entwicklungen, Weltmarktbewegungen, internationale Politik, Kulturentwicklungen,...der gesamte restliche Teil der Zeit, die betrachtet wird. Wollt ihr euch wirklich einreden lassen, dass eine Menschengruppe (die zudem extrem homogen betrachtet wird) an ALLEN gesellschaftlichen Problemen der letzten Jahre Schuld trägt? Weil es diese Menschengruppe "vorher" "hier" angeblich nicht gab und "seitdem die hier sind" sich alles verschlechtert hat? Seht doch, dass ihr bei dieser Überlegung alle, wirklich alle anderen Faktoren vernachlässigt. Und auch anekdotische Evidenz ("Bei uns im Ort sind es aber immer die Ausländer") hat keine statistische Aussagekraft und schon gar nicht irgendeine Form der Allgemeingültigkeit. Überlegt lieber weiter: sind es vielleicht nicht immer die Ausländer, sondern immer Männer? Oder immer schlechter gestellte Personen der Gesellschaft?
Aber die AfD propagiert - gemeinsam mit ihren Verbündeten in Potsdam und anderswo -, dass alles sich verbessern würde, wenn wir nur diese Menschengruppen wieder los werden. Nach der Potsdamer Idee würde ich als Deutsche mit Migrationshintergrund (dazu zählen alle, die selbst oder deren mind. 1 Elternteil außerhalb Deutschlands geboren wurde) ja auch abgeschoben werden. Das bringe ich in Diskussionen öfter ein, worauf ich zu hören bekomme "aber du bist ja nicht mitgemeint" oder "du bist ja eine von den guten". Trotzdem wird gefordert, dass Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft (wie ich) die deutsche Staatsbürgerschaft bei Straffälligkeit verlieren können. Das heißt - wenn wir das konsequent zu Ende denken: Wenn Hanna eine Straftat begeht, kommt sie ins Gefängnis. Wenn ich eine Straftat begehe, komme ich ins Gefängnis und verliere meine Staatsbürgerschaft. Wir sind beide ungefähr gleich alt, sprechen die gleiche Sprache, sind im gleichen Ort aufgewachsen, studieren im gleichen Bundesland. Wo ist der Unterschied? Ach ja, durch meine "gemischte" Herkunft habe ich anscheinend Qualitäten in mir, die mich schlechter und der deutschen Staatsbürgerschaft weniger würdig machen. Warum haben manche Menschen "mehr" das Recht, hier zu wohnen (und straffällig zu werden) als andere? Warum werden manche härter bestraft als andere? Aber um mich soll es hier gar nicht so sehr gehen - ich bin weiß, deutsch (jedenfalls auch) und privilegiert. Was ist mit meiner Mutter, die keine deutsche Staatsbürgerschaft hat (aber immerhin weiß ist)? Was ist mit einer dunkelhäutigen Person, die in der 3. Generation in Deutschland wohnt und damit deutscher ist als ich? Was ist mit einer Migrantin, die jene Arbeit leistet, die "Deutsche" nicht ausführen wollen? Oder mit der Migrantin, die hochspezialisierte Arbeit ausführt, die "hier" niemand leisten könnte? Alle werden in einen Topf geworfen. Und nein, unabhängig davon, was die AfD in ihrem Wahlprogramm schreibt, in den Medien, in dem, was sie sagt und tut, differenziert sie eben NICHT in "gute" und "schlechte" Ausländer, sondern in Deutsche und Ausländer. Lasst euch nicht einreden, dass es "nur" um "straffällig gewordene" und abgelehnte Asylbewerber geht, die abgeschoben werden sollen. Lest euch lieber durch, was eure gewählten AfD-Vertreter von sich geben: Das wahre AfD-Wahlprogramm. Denkt an die Berichte von rassismusbetroffenen Menschen in der Gesellschaft. Diese Betroffenen - waren das alles nur diese straffälligen, abgelehnten Asylbewerber?
Wir Menschen brauchen kategoriales Denken für schnelle Entscheidungen. Aber das zu nutzen, um andere in "Deutsch=gut" und "NichtDeutsch=schlecht" einzusortieren - damit kann keine zukunftsorientierte Politik gemacht werden. Die AfD nutzt diese rein biologischen Verhaltensweisen des Menschen, um zu manipulieren und Stimmen zu gewinnen. Viele Menschen, gerade im Osten, gerade aus der Arbeiterschicht, fühlen sich zurückgelassen, überrannt von all diesen neuen Entwicklungen, frustriert und wütend. Die AfD nimmt diese Gefühle wahr, geht darauf zu und spricht mit den Menschen - aber anstatt sie tatsächlich ernst zu nehmen und zu erklären und strategische Lösungswege zu entwerfen, verstärkt sie diese Gefühle der Angst, der Wut und der Frustration. Sie spricht nicht euren Kopf an, sondern eure verworrensten Emotionen. Denkt ihr, dass daraus gute Politik entstehen kann? Dass die AfD-Landkreise, die einen Landrat gestellt haben, absolut nicht gut zurecht kommen, ist bekannt - für Kommunalpolitik braucht es eben mehr als hasserfüllte, frustrierte Parolen. Auf den Tisch hauen - das ist der Wunsch vieler Menschen, die AfD-wählen. Aber wenn man auf den Tisch haut, ändert sich erstmal nichts, und durch wiederholtes Auf-den-Tisch-hauen wird allen, die darum sitzen, schwindlig und schlecht.
Einfache, schnelle Lösungen und schwarz-weiß-Malerei sind in den allermeisten Fällen nicht zielführend. Lügen können Menschen überzeugen, aber keine Probleme lösen. Denn es stimmt einfach nicht, dass "früher alles besser war" und alle gesellschaftlichen Schieflagen (von denen viele gar nicht so neu sind, wie die AfD gern behauptet) sich dadurch lösen, wenn wir die Zeit zurückdrehen. Es stimmt nicht, dass nichts passiert, es stimmt nicht, dass die anderen Parteien auch nicht besser sind. Gerade viele Ostdeutsche, die mit dieser Partei sympathisieren, scheinen der Überzeugung zu sein, dass "der Staat" alles für sie erledigen sollte, ohne dass sie selbst etwas dafür tun. Wir alle sind der Staat, wir alle können und sollen uns an der Demokratie beteiligen. Aber fallt nicht auf diese Lügen und diese Angstmache herein. Schon gar nicht, wenn sie von einer in Teilen gesichert rechtsextremen Partei kommen. Die AfD würde vieles ändern, das ihr gar nicht auf dem Schirm habt - und zwar nicht zu eurem Guten. Gerade die AfD ist sehr schnell dabei, Informationen als "linke Propaganda" zu verunglimpfen. Aber gerade die AfD nimmt es selbst mit der Wahrheit nicht so genau. Das seht ihr u.a. in der Studie "Reformvorschläge oder Steuergeschenke? Die Wahlprogramme 2025 auf dem Prüfstand" des ifo-Instituts (zeigt, dass die Steuer- und Wirtschaftspolitik der AfD zu hohen fiskalen Defiziten führt). Ähnlich haben wir das vergangenen September in einem Blogbeitrag diskutiert.
Also, liebe Leute. Glaubt nicht der Meinungsmache, sondern überlegt, was für Auswirkungen diese umgesetzte Politik tatsächlich hätte. Nicht nur auf euch selbst, sondern auf Menschen, die euch wichtig sind, und auf Menschen, die ihr gar nicht kennt. Aber wo bleibt unsere gemeinsame Menschlichkeit? Wollt ihr von einer Partei regiert werden, die eure Ängste manipuliert, verstärkt und ausnutzt, um an die Macht zu kommen? Oder wollt ihr von Parteien, die rational, durchdacht, vielfältig und komplex handeln, repräsentiert und regiert werden - dafür aber tatsächliche Lösungswege statt Aufreger und Zukunftsängste bieten? Ich zumindest möchte von Menschen regiert werden, die nicht dafür sorgen, dass ich mich kurzfristig "besser fühle", sondern die dafür sorgen, dass es mir besser geht.
Warum sollte man am Sonntag die AfD wählen? Kurz gesagt: Man sollte nicht. Wählt weise.
Weronika
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